Die «NZZ am Sonntag» publizierte eine Gefahrenkarte, auf der fast das ganze Lötschental rot eingefärbt war. Darf in Blatten ein neues Dorf gebaut werden?
Beat Rieder: Wegen der Lawinengefahr gibt es im Lötschental tatsächlich viele rote Zonen. Sie sind auf beiden Seiten des Tals zwischen den Dörfern zu finden, dort, wo auch die Bäche und Flüsse sind. Zwischen den Dörfern darf man nicht bauen. Dort ist rote Zone.
Bei den Dörfern selbst sieht es anders aus?
Ja. Blatten, Wiler, Ferden und Kippel stehen in weissen, ungefährdeten Zonen oder gelben Zonen mit vernachlässigbarer Gefährdung. Einzelne Häuser liegen in blauen Zonen, das heisst, sie mussten mit Objektschutzmassnahmen verstärkt gebaut werden. Im Lötschental wird grundsätzlich nur dort gebaut, wo absolut sicher gebaut werden kann, weil wir sehr viele Lawinen und Murgänge hatten. Das wissen wir aufgrund unserer Geschichte und unserer Erfahrung mit solchen Ereignissen.
Dennoch entstand der Eindruck, im Wallis werde trotz Gefahrenkarte überall gebaut.
Mit Verlaub: Das ist völliger Unsinn. Man kann bei einem Ereignis wie in Blatten nicht Schlüsse ziehen, ob man in Berggebieten noch bauen darf oder nicht. Das tun vielleicht einzelne Journalisten, aber nicht die Bewilligungsbehörden.
Nur: Blatten wurde zugedeckt. Was bedeutet das?
Der Fall Blatten war ein Jahrtausendereignis. Ein Ereignis also, das von der Gefahrenkarte gar nicht erfasst wird. Die Idee der Gefahrenkarten ist es, wahrscheinliche Ereignisse aufzunehmen. In einer Gefahrenkarte werden häufige Ereignisse dargestellt, die sich in einem Zeitraum von bis zu 30 Jahren ereignen können, mittlere Ereignisse mit einem Zeitraum von 100 Jahren und seltene Ereignisse, die sich mit einer Wiederkehrdauer von 300 Jahren ereignen können. Die Karte teilt die Gebiete entsprechend dieser Häufigkeit von Ereignissen und der erwarteten Intensität in Zonen ein.
Welche Zonen?
Rote Zonen haben eine erhebliche Gefährdung. In ihnen darf nicht gebaut werden. In blauen Zonen mit mittlerer Gefährdung braucht es verstärkte Bauweisen und zusätzliche Sicherheitsmassnahmen. Gelbe Zonen sind nur gering gefährdet, in der Regel sind keine baulichen Massnahmen erforderlich. Weisse Zonen mit keiner oder vernachlässigbarer Gefährdung sind ungefährlich. Für Gebiete, bei denen die Wiederkehrdauer eines Ereignisses über 300 Jahre beträgt, oder für Gebiete, die von einem Extremereignis betroffen sein können, kann eine gelb-weiss gestreifte Zone mit Restgefährdung ausgeschieden werden. Dies war bis anhin abhängig vom Naturgefahrenprozess und nicht überall üblich. Nicht nur im Wallis.
Ist die Verschüttung Blattens weltweit einzigartig?
Ein Glaziologe sagte mir, das Ereignis sei in dieser Kombination von Berg- und Gletschersturz einzigartig. Einzig im Kaukasus gab es bisher ein ähnliches Ereignis. Auch da wurde ein ganzes Dorf verschüttet. Aber fragen Sie das die Experten.
Muss die Schweiz die Gefahrenkarten nach Blatten anpassen?
Das müssen Wissenschafter analysieren. Ich kann allerdings schon heute sagen, was es bedeutet, wenn man künftig Jahrtausendereignisse in die Gefahrenkarte integrieren würde.
Was?
Dann ist das Alpengebiet nicht mehr bewohnbar. Auch grosse Gebiete der Schweiz wären nicht mehr bewohnbar. Fachleute müssten zum Beispiel sagen, wo im Mittelland wegen möglicher Jahrtausendüberschwemmungen nicht mehr gebaut werden dürfte. Und auch grosse Erdbeben müssten dann meines Erachtens in die Gefahrenkarte aufgenommen werden.
Mit Folgen für Basel?
Es geht nicht um Basel. Sondern um die Frage, ob und wo mit einem Restrisiko in der Schweiz gelebt werden muss. Die aktuelle Diskussion hat verheerende Konsequenzen. Sie suggeriert den Politikern, sie müssten die Menschen aus den Tälern nehmen. Eine Entvölkerung der Täler wäre aber der völlig falsche Weg.
Die Gefahrenkarte in ihrer heutigen Form taugt nach wie vor?
Die bisherigen Gefahrenkarten des Lötschentals waren absolut angemessen. Wir hatten seit den 1950er-Jahren keinen einzigen Todesfall aufgrund von Ereignissen in der weissen Zone. Todesfälle gibt es aber, wenn jemand ausserhalb gesicherter Pisten in roten Zonen Ski fährt. Das kennen wir alle.
War in Blatten die Evakuationszone zu knapp bemessen?
Das weiss ich nicht. Was aber klar ist: Wir dürfen nun nicht auf Panik machen. Nüchtern betrachtet war dieses Ereignis schwer vorhersehbar. Die Behörden machten einen hervorragenden Job. Sie sahen voraus, dass sich ein Jahrtausendereignis entwickeln könnte, und veranlassten eine Evakuation, die weit über die Gefahrenkarte hinausging.
Setzte der Führungsstab neue Massstäbe?
Meines Erachtens ja. Die Behörden sahen voraus, dass ein Ereignis bevorsteht, dem man nicht mit normalen Massnahmen wie Strassensperren und anderem begegnen kann. Damit wurden 300 Personen evakuiert, statt dass sie unter Schutt begraben wurden. In Arth-Goldau vor 200 Jahren war das leider noch anders. Das ist ein grosser Fortschritt von Wissenschaft, Fachleuten und involvierten Behörden.
Welche Lehren ziehen Sie?
Es braucht eine noch modernere und bessere Überwachung von Krisenstellen in der Schweiz. Jeder Kanton hat eine Gefahrenkarte und weiss genau, wo die Gefahren liegen.
Was erwarten Sie konkret?
Dass der Budgetposten Abwehr von Naturgefahren bei der nächsten Budgetverhandlung aufgestockt wird. Wir brauchen mehr Mittel für die Abwehr von Naturgefahren, damit Behörden und Wissenschafter solche Super-GAUs voraussehen können. Ich werde entsprechende Anträge stellen. Das Geld muss vor allem an die Front zu den betroffenen Gemeinden. Unterschätzen Sie nicht die Intuition der Menschen, die seit Generationen mit diesen Risiken leben. Technologie ist gut, am Schluss der Kette steht der Mensch, der ein Restrisiko nimmt, aber auch rechtzeitig die Evakuation anordnet. Eines fragt sich aber: Stimmen die Prioritäten in der Schweiz noch?
Wie meinen Sie das?
Die innere und äussere Sicherheit der Bevölkerung ist eine prioritäre Aufgabe unseres Staates. Zur inneren Sicherheit zählen nicht nur Polizei und Justiz und anderes. Dazu gehört auch die Abwehr von Gefahren wie Hochwasser, Erdbeben, Lawinen, Murgängen, Gletscher- und Bergstürzen. Das Bundesamt für Umwelt gab laut Rechnung 2024 38 Millionen Franken aus für den Schutz vor Naturgefahren. Für das Recycling von Glas gab es 30,6 Millionen aus, für das Recycling von Batterien 30 Millionen und für multilaterale Umweltfonds 49,9 Millionen.
Sie nehmen das Bundesamt für Umwelt in die Pflicht?
Ich nehme alle, auch mich, in die Pflicht. Ich sage nur: All diese Posten befinden sich im gleichen Bundesamt eines Departements. Wir müssen die Prioritäten in der Schweiz überdenken!
Bei allem Verständnis und Respekt für die Walliser - das kann es nicht sein.
Im Val Roseg ereignete sich nicht vor 1000 Jahren, sondern im April letztes Jahr, ein noch grösserer Bergsturz als in Blatten. Der gewaltige Schuttstrom ergoss sich weit ins Tal. Aber weil das Tal unbewohnt ist, hat man erst am nächsten Morgen überhaupt gemerkt, dass etwas passiert ist.