Es haben sich manche am letzten Sonntag vor Verwunderung die Augen gerieben. Die Wahlen seien für schweizerische Verhältnisse «sensationell» verlaufen, schrieb etwa SP-Urgestein Helmut Hubacher in seiner Kolumne in der «Basler Zeitung». Der abgedroschene Begriff hat für einmal seine Berechtigung, und Hubacher muss es wissen. Er hat in seinen 93 Lebensjahren viel erlebt.
Als «Quantensprung» bezeichnete der langjährige SP-Präsident den Erfolg der Grünen. Sie steigerten die Zahl ihrer Sitze im Nationalrat von 11 auf 28. Mit den erwarteten Zugewinnen im Ständerat dürfte sich die Fraktionsgrösse fast verdreifachen. Bemerkenswert sind auch die neun Sitzgewinne der Grünliberalen, während alle Bundesratsparteien Einbussen erlitten.
Am Härtesten traf es die SVP. Sie hatte mit ihrem Aufstieg seit den 1990er Jahren das jahrzehntelang stabile helvetische Parteiengefüge umgepolt. Allerdings fanden die prozentualen Verschiebungen fast ausschliesslich innerhalb des bürgerlichen Lagers statt. Am letzten Sonntag haben sie das gesamte Spektrum durchgeschüttelt. Das macht die Wahlen 2019 speziell.
Für den Politologen Claude Longchamp waren es «die volatilsten Parlamentswahlen der Nachkriegszeit». Die Umfragen hatten zwar die Tendenz richtig erkannt, nicht aber die Dynamiken – auch nicht Longchamps Combining-Modell, das vor vier Jahren noch sehr treffsicher war. Es scheint, als ob die Schweizer Politik sich dem Ausland angleicht und unberechenbarer wird.
In den USA erlebten die Meinungsforscher bei der Präsidentschaftswahl 2016 ein veritables Debakel. Dabei hatten sie durchaus zurecht vorhergesagt, dass Hillary Clinton mehr Stimmen erzielen werde als Donald Trump. Es waren sogar deutlich mehr. Massiv unterschätzt hatten sie jedoch die Dynamik zugunsten von Trump in den wichtigen Swing States, die ihm zum Sieg verhalf.
Ganz ähnlich lief es nun in der Schweiz. Für Claude Longchamp war der letzte Sonntag «eine Bewegungswahl». Das bedeutet aber auch, dass die für ihr stabiles System gerühmte Schweiz sich ein Stück weit vom Sonderfall verabschiedet. Sie gleicht sich den USA und vor allem europäischen Ländern an, in denen sich alte Parteiloyalitäten auflösen und das Wahlverhalten erratischer wird.
Die SVP hat damit bereits Erfahrungen gemacht. Nach ihrem steten Aufstieg bis 2007 erlebte sie 2011 etwas überraschend einen Einbruch, nur um vier Jahre später unter dem Eindruck des Flüchtlingsthemas ein nationales Allzeithoch in Sachen Wähleranteil zu erklimmen. Nun erfolgte die erneute Korrektur: Minus 3,8 Prozent Wähleranteil, minus 12 Sitze im Nationalrat.
Die Verluste hätten angesichts der «grünen Welle» höher ausfallen können. Wenn Parteidoyen Christoph Blocher im Tamedia-Interview behauptet, er habe «für die SVP allein einen Einbruch von 10 Prozent» prognostiziert, dann handelt es sich einerseits um eine für ihn typische Tiefstapelei. Blocher ist in dieser Disziplin ein Grossmeister. Aber ganz unrecht hat er nicht.
Wer von einem Niedergang der SVP träumt, leidet an Illusionitis. Mag sein, dass die Überalterung der Basis langsam zum Problem wird. Aber die SVP wird auf absehbare Zeit die Nummer eins bleiben. Mit dem Mix aus neoliberaler Wirtschafts-, reaktionärer Familien- und Gesellschaftspolitik sowie aussen- und sicherheitspolitischer Réduit-Mentalität besitzt sie ein Alleinstellungsmerkmal.
Sie profitiert davon, dass CVP und FDP sich seit dem Ende des Kalten Kriegs geöffnet haben, und bedient jenes Segment der Bevölkerung, das sich nach der «guten alten Zeit» sehnt und in Trump-Manier am liebsten eine Mauer um die Schweiz errichten würde. Wenn die Weltlage unsicherer werden und der Migrationsdruck auf Europa zunehmen sollte, wird die SVP profitieren.
Weniger verheissungsvoll sind die Perspektiven für die Grünen, die grosse Wahlsiegerin des Sonntags. Selbst in der Umweltpolitik unterscheidet sie sich nur in Nuancen von der SP. Ihr USP ist die Parteifarbe, die Tatsache, dass sie «Grün im Namen» trägt, wie SP-Präsident Christian Levrat meinte. Sie bescherte seiner Partei Verluste, die niemand kommen sah.
Als Warnsignal für die Grünen könnte eine «Spiegel»-Umfrage dienen. Sie besagt, dass ihre deutsche Schwesterpartei auch rund 40 Jahre nach ihrer Gründung nur in der Klima- und Umweltpolitik als kompetent wahrgenommen wird. In allen anderen Bereichen liegen die Grünen teilweise weit hinten. Eine analoge Umfrage in der Schweiz dürfte kaum anders herauskommen.
Falls soziale und wirtschaftliche Fragen in Zukunft die Klimaproblematik überlagern sollten, dürfte die SP profitieren. Die schönen Gewinne der Grünen könnten sich in Luft auflösen. Sie waren in ihrer Geschichte stets eine «Liftpartei». Mal ging es hinauf, dann wieder hinunter. Dies gilt es mit Blick auf die Forderung nach einem grünen Sitz im Bundesrat zu bedenken.
Zwar ist auch die Landesregierung nicht mehr so stabil wie zu Zeiten der alten Zauberformel. Seit den Wahlen 2003 und 2007 mit Blochers Einzug und Rauswurf ist die Zusammensetzung volatil geworden. Auch 2015 wirkte sich das Resultat der Parlamentswahl darauf aus. Als Eveline Widmer-Schlumpf realisierte, dass es für sie nicht mehr reichen würde, trat sie zurück.
Nun gibt es Ideen für eine neue Zauberformel, bei der die Sitze alle vier Jahre gemäss der Parteienstärke bei der Parlamentswahl neu verteilt würden. Das aber würde konkret bedeuten, dass die Grünen im Fall einer Niederlage 2023 wohl aus dem Bundesrat ausscheiden müssten. Haben dies die (medialen) Stimmen bedacht, die nun «subito» einen Sitz für die Grünen fordern?
Im teilweise absurden Medientheater um den Bundesrat vergisst man gerne, dass die Schweiz eine schwache Regierung hat, was durchaus gewollt ist. Die Gewaltenteilung überträgt die Gesetzgebung dem Parlament, und am Ende entscheidet das Stimmvolk über die wichtigen Geschäfte. Will man das Gremium zusätzlich schwächen, indem man es instabiler macht?
Wenn sich die Zusammensetzung des Bundesrats künftig am Wahlergebnis ausrichten sollte, würde die Schweiz auch in diesem Bereich «normaler». Es wäre eine Annäherung an die Verhältnisse in repräsentativem Demokratien, in denen der Ausgang der Parlamentswahl darüber entscheidet, wer die Regierung bildet und allenfalls in die Opposition verwiesen wird.
Eine Aufweichung des «Sonderfalls» Schweiz ist an sich zu begrüssen. Seine mythische Überhöhung wirkt vor dem Hintergrund der globalen Herausforderungen – nicht nur in der Klimafrage – zunehmend befremdlich. Unser stabiles politisches System aber gilt nach wie vor als wichtiger Standortvorteil. Wir sollten ihn auch nach dieser «sensationellen» Wahl nicht leichtfertig aufs Spiel setzen.