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Eriswil: Der Aufstand der tapferen Näherinnen aus dem Bauerndorf

Das Dorf Eriswil, am Montag 17. Dezember 2018 in Eriswil. Foto: Marcel Bieri
In Eriswil spielte sich eine vergessene Revolution ab.Bild: MBG

«Kein Lohn – ein Hohn»: der Aufstand der tapferen Näherinnen aus dem Bauerndorf

Wie ein Pfarrer und seine Frau, tapfere Heimarbeiterinnen und ein mutiger Journalist ein Bauerndorf aus Not und Armut erlöst haben. Eine vergessene Revolution, die auch zeigt, was Medien bewirken können.
30.07.2023, 19:02
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Was schliesslich in einer landesweit beachteten Revolution endet, beginnt ganz leise. Im Jahr 1852 zieht die Pfarrfamilie Gerster-Wiegsam von Gadmen nach Eriswil. Im heute hablichen Dorf im Bernbiet, nur wenige Wegstunden von Lützelflüh entfernt, wo Pfarrer Albert Bitzius (Jeremias Gotthelf) predigt, regiert bittere Armut. Ausser einigen reichen Bauern («Dorfkönigen») besteht die Gemeinde aus vielen armen Grossfamilien, die oft in bedrückend engen Wohnverhältnissen darben. Es sind soziale Strukturen, die in der ländlichen Schweiz im 19. Jahrhundert weitgehend üblich sind.

Pfarrer Carl Ludwig Gerster und seine Frau Maria kennen bereits aus der abgelegenen Berggemeinde Gadmen (heute fusioniert mit Innertkirchen) Elend, Armut und Not. Schon dort, an der Auffahrt zum Sustenpass haben sie versucht, den Armen und Bedürftigen zu helfen.

Maria Gerster ist eine starke Frau. Tatkräftig, fleissig, energisch. Sie kann nicht tatenlos zusehen, wie schwer die Armut auf den Menschen in ihrem neuen Wirkungskreis lastet. Die Frauen im Dorf haben kaum Erwerbsmöglichkeiten. Ausser einigen Webstühlen der Leinenweberei Schmid besitzt das Dorf keine Industrie. Ausser der Taglöhnerei bei den reichen Bauern keine Arbeitsplätze. Auch der Schulbetrieb ist noch sehr primitiv. Eine Handarbeitsschule gibt es noch nicht.

Hier setzt die tatkräftige Frau Pfarrer den Hebel an. Sie ist in der Handarbeit überaus geschickt. Im Pfarrhaus sammelt sie die Mädchen des Dorfes um sich und lehrt die Schülerinnen stricken, häkeln und filochieren (= eine Knüpftechnik). Von den einfachsten Arbeiten ausgehend bis zu den feinsten Gebinden entstehen unter fleissigen Händen zarte Kindersachen und währschafte Strümpfe, Schlüttli (= Jäckchen für Säuglinge), Häubchen und Finkli.

Eriswil und die Heimarbeiter am Donnerstag 22. Oktober 2020. Foto: Marcel Bieri
Bild: MBG

Mit zunehmender Geschicklichkeit wächst bei allen die Freude am fleissigen Schaffen. Maria Gerster sorgt für Arbeitsmaterial und verkauft die fertigen Erzeugnisse an Verwandte und Bekannte. Die Zahl ihrer Schülerinnen wächst stetig. Auch der Schule bereits entwachsene Mädchen stricken weiter. Sogar männliche Arbeitskräfte stellen sich im Pfarrhaus zu den Strick- und Arbeitsstunden ein. Nun gilt es für vermehrten Absatz zu sorgen.

Pfarrer Carl Ludwig Gerster unterstützt das Werk seiner Gattin nach Kräften. Neben seiner seelsorgerischen Arbeit in der weitverzweigten Gemeinde, in der es so manche verlorene Seele dem Herrn zuzuführen und dem Teufel Alkohol zu entreissen gilt, und neben dem Unterricht in einer von ihm gegründeten Privatschule sucht er den Absatz der Strickwaren zu vergrössern. Mit einem Handköfferchen voller Muster sucht er gemeinsam mit seiner Frau in den grossen Städten – sie reisen bis nach Bern hinauf und nach Basel hinab – nach Abnehmern der Eriswiler Handarbeiten. Um die Verdienstmöglichkeiten zu erweitern, wird eine Hausiererin angestellt – die Marei – die bis zu ihrem 80. Lebensjahr Handel mit den Eriswiler Strickwaren betreibt.

Immer wieder beraten die Pfarrersleute neue Möglichkeiten, um das Absatzgebiet zu vergrössern. Ihre Heimindustrie macht erfreuliche Fortschritte. Nun erweisen sich die Beziehungen, die sie während ihrer Tätigkeit in Gadmen geknüpft haben, als wertvoll. Das abgelegene Oberländerdorf besitzt in den vierziger Jahren des 19. Jahrhunderts noch keinen Gasthof. Im Sommer kommen oft müde Wanderer, die im Pfarrhaus um Obdach und Bewirtung bitten. So lernen der Pfarrer und seine Frau viele Reisende kennen. Einer der Gäste ist der reiche, einflussreiche Kaufmann Georg Kiefer (1823 bis 1895) aus Basel.

Eriswil und die Heimarbeiter am Donnerstag 22. Oktober 2020. Foto: Marcel Bieri
Bild: MBG

Nun macht sich Carl Ludwig Gerster mit seinem Musterköfferchen auf den Weg nach Basel. Um diese Beziehung aufzufrischen. Die Reise lohnt sich. In grosszügiger Weise erlaubt der Basler Geschäftsmann seinen Schwestern Lena und Magdalena, ein Depot der Strickwaren auf eigene Rechnung und als Nebenverdienst zu übernehmen. Um einen tieferen Einblick in diese Unternehmung zu bekommen, reist Lena Kiefer in den Ferien sogar nach Eriswil ins Pfarrhaus. Fortan werden all die schönen Sachen durch die Firma Georg Kiefer & Co. in Basel verkauft. Ernst Wirz aus Basel wird als Reisender angestellt und schliesslich sogar zum Geschäftsführer befördert.

Der Absatz nimmt einen so grossen Umfang an, dass Maria Gerster die Arbeit in Eriswil nicht mehr allein organisieren kann. Geschäftsführer Ernst Wirz und Magdalena Wirz lassen sich 1859 in Eriswil nieder. Das von der Pfarrersfamilie ins Werk gesetzte Unternehmen wird nun – wie man heute sagen würde – «professionalisiert». Das Wagnis lohnt sich. Unter der kundigen Leitung des Ehepaares Wirz-Kiefer entsteht ein blühendes Unternehmen. Über die internationalen Verbindungen der reichen Basler Kaufmannsfamilie Kiefer gelangen die in Eriswil hergestellten Jäckli, Höschen, Häubchen, Pullover und Schüttli in viele europäische Länder, an den Zarenhof und sogar hinüber nach Amerika.

Die Näherinnen von Eriswil verdienen nicht viel. Aber das Stricken bringt ihnen einen wertvollen Zustupf, den die meisten Familien bitter nötig haben und entsprechend zu schätzen wissen. Ende der 1800er und Anfang der 1900er Jahre stehen zwischen 700 und 800 Heimarbeiterinnen auf der Lohnliste der Firma Wirz. Aber der 1. Weltkrieg (1914 bis 1918) und die darauffolgenden weltweiten wirtschaftlichen Depressionen führen zu einem schmerzlichen Rückgang des Absatzes. Der Verdienst aus den Handarbeiten wird immer schmäler.

Was früher ein wichtiger Zustupf fürs Überleben der Familie war, verkümmert in der Zwischenkriegszeit mehr und mehr zu einem Hungerlohn. Der Verdienst ist für die geleistete Arbeit viel zu gering. Aber immer noch so viel, dass man darauf nicht verzichten kann. Niemand wagt aufzubegehren. Aus Angst, auch noch diesen kläglichen Verdienst zu verlieren und dem Ruf der Dorfgemeinschaft zu schaden. Und aus Ohnmacht. Wie hätte man denn auch aufbegehren sollen?

Und nun kommen die Medien ins Spiel. 1943 prangert der Journalist Hans Werner Hirsch unter dem Pseudonym Peter Surava diese an Ausbeutung grenzenden Zustände an. Er ist Chefredaktor der Zeitung «Die Nation», die in Bern herausgegeben wird. Sie ist im September 1933 gegründet worden und setzt sich für Unabhängigkeit, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit ein. 1952 wird sie eingestellt.

Unter Hans Werner Hirsch steigt die Auflage von 8000 zwischenzeitlich in den 1940er Jahren auf 120'000 Exemplare. Das Blatt macht sich nicht nur durch die kritische Haltung gegenüber Nazi-Deutschland einen Namen. Sondern auch durch engagierte Sozialreportagen, die vom bekannten Fotografen Paul Senn illustriert werden. Er gilt als Vertreter einer neuen Bildsprache, die den Alltag des Menschen illustriert, und erlangt internationale Berühmtheit.

Eriswil und die Heimarbeiter am Donnerstag 22. Oktober 2020. Foto: Marcel Bieri
Bild: MBG

Aus Gewerkschaftskreisen haben Hans Werner Hirsch (bzw. Peter Surava) und Paul Senn von der miserablen Entlöhnung und der prekären Situation der Eriswiler Heimarbeiterinnen erfahren. In einer ganzseitigen Reportage unter dem Titel «Kein Lohn – ein Hohn!» legen sie die Missstände schonungslos offen. Sie zeigen beispielsweise auf, dass Artikel, die in den Warenhäusern der grossen Städte bis zu 61 Franken kosten, bei einem Stundenlohn von 10 Rappen hergestellt werden.

Wie viele andere Artikel dieses mutigen Journalisten bleibt auch seine Reportage aus Eriswil nicht ohne Wirkung. Er macht das Schicksal der tapferen Eriswilerinnen zum nationalen Thema. Noch im gleichen Jahr kommt es im Juli 1943 auf der Brestenegg – ein Bergrestaurant oberhalb von Eriswil – zu einer «Heimarbeiterinnen-Landsgemeinde» mit 500 Teilnehmerinnen, die durch Hans Werner Hirschs ganzseitige Reportage («E gueti Sach») erneut landesweite Beachtung findet.

Eriswil und die Heimarbeiter am Donnerstag 22. Oktober 2020. Foto: Marcel Bieri
Bild: MBG

Und tatsächlich: Die Lage bessert sich. Die Firma Wirz gerät unter Druck. Sie lässt sich in Lohnverhandlungen ein. Schliesslich wird der Stundenlohn von 10 auf 80 Rappen erhöht. Ein grosser Sieg. In der Ausgabe vom 20. September 1944 kann «Die Nation» ihren Leserinnen und Lesern wiederum in einer ganzseitigen Reportage unter dem Titel «Es het öppis abtreit» von den Verbesserungen berichten.

Zwar investiert die Firma Wirz umgehend in die Automatisation, in Handstrick- und später Vollautomaten. Dadurch gehen zwar Aufträge für die Heimarbeiterinnen verloren. Aber die Eriswilerinnen meistern diesen Wandel. Sie spezialisieren sich. Sie stricken nun spezielle Artikel wie Bettjacken aus Mohair (Haare der Angora-Ziege) oder häkeln Stolen und Wagendecken aus besonderem Garn. Weitere neue Tätigkeiten kommen dazu. Etwa das Zuschneiden und Zusammennähen einzelner Teile der Artikel und das Versäubern von Stickereien. Viele Frauen werden echte Künstlerinnen.

Neue Absatzmärkte in Europa, hauptsächlich in Deutschland, Frankreich und England werden aufgebaut. Die Firma Wirz kreiert sogar für die Kleinkinderboutiquen des weltberühmten französischen Modeschöpfers Christian Dior Exklusiv-Kollektionen. Die Stricksachen aus Eriswil, dem Dorf im tiefsten, hintersten Oberaargau gehören zur Garderobe von Königskindern, Prinzessinnen und Prinzen. Das Nobelkaufhaus «Harrods» in London ist jahrelang ein Kunde von Wirz & Co. aus Ersiwil.

Langsam, aber stetig ändern sich der Zeitgeist und die Mode. Kleidungsstücke aus Stoff beginnen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts mehr und mehr die Stricksachen zu verdrängen. 1989 schliesst die Firma Wirz ihre Türen. Eriswil ist inzwischen längst ein habliches Dorf mit knapp 1400 Einwohnenden geworden. Zu dieser Entwicklung haben eine Pfarrersfamilie, die tapferen Näherinnen und ein mutiger Journalist und ein Fotograf viel beigetragen.

Literatur:
Die Unruhe der Strickerinnen von Therese Lüthi
Eriswil – Dorfgeschichte von Regina Baumann, Arthur Beer, Theo Rohr und Elisabeth und Jörn Schulz
Schriftstellerinnen und Schriftsteller der Gegenwart von Ernst Steiger.

Aus dem Magazin Wurzel

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11 Kommentare
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Die beliebtesten Kommentare
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tss
30.07.2023 20:59registriert Juni 2020
Die Wirtschaft regelt sich selber? Kommt mir spontan in den Sinn. Damals wie heute muss der Normalbürger selber schauen wo er mit dem Lohn bleibt. Danke für die geschichte.
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Butschina
30.07.2023 20:57registriert August 2015
Spannend, danke
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Lies
30.07.2023 23:03registriert Juli 2018
Danke für den Artikel, sehr interessant.
Mein Grosi kam dazumals mit ihren Cousinen sogar aus dem fernen Italien - aufgrund eines Inserats nach Eriswil in diese Fabrik, um zu arbeiten und lernte dort meinen Grossätti kennen.
Er arbeitete dort für einen Zustupf, da seine Familie mausbeinarm war.
Sie ist in der Schweiz geblieben-aber blieb auch ihr Leben lang Heimwehitalienerin.
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