Schweiz
Gesellschaft & Politik

Abtreibungen in der Schweiz nehmen zu: Was ist da los?

SYMBOLBILD - 24.04.2024, Sachsen-Anhalt, Bitterfeld-Wolfen: Medikamente zum Schwangerschaftsabbruch sind in einer gyn
In der Schweiz gibt es so viele Schwangerschaftsabbrüche wie nie zuvor.Bild: DPA

Abtreibungen nehmen zu, Geburten nehmen ab: Was ist hier los?

12'045 Frauen haben im vergangenen Jahr in der Schweiz ihr Kind abgetrieben – fast 700 mehr als im Vorjahr. Die Ursachenforschung führt zur Antibabypille.
09.07.2024, 09:3709.07.2024, 09:37
Kari Kälin / ch media
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Die Menschen sind aufgeklärt, haben Zugang zu Verhütungsmitteln und können im internationalen Vergleich hervorragend Familienplanung: Die Schweiz hat eine der tiefsten Abtreibungsraten weltweit. Doch die neusten Zahlen des Bundesamtes für Statistik lassen aufhorchen. Für das vergangene Jahr vermeldete es schweizweit 12'045 Schwangerschaftsabbrüche. Das sind 671 respektive fast 6 Prozent mehr als 2022. Seit 2004 werden die Zahlen schweizweit einheitlich erhoben. Noch nie wurde seither ein so hoher Anstieg innert eines Jahres verzeichnet. Nie lag die Abbruchrate (7,2 pro 1000 Frauen im gebärfähigen Alter) höher, nie kamen so viele Abtreibungen (147) auf 1000 Lebendgeburten.

Wie lässt sich der Anstieg begründen? Diese Frage beantworten die nackten Zahlen der Statistik nicht. Sibil Tschudin, emeritierte Professorin und bis Ende April leitende Ärztin der Abteilung für Gynäkologische Sozialmedizin und Psychosomatik am Universitätsspital Basel, ist vertraut mit der Thematik Schwangerschaftsabbruch. Sie sagt zunächst: «Es ist wichtig zu analysieren, wie der Anstieg zustande gekommen ist. Ein Schwangerschaftsabbruch ist für niemanden angenehm.»

Antibabypille auf Rückzug

Tschudin nennt eine naheliegende Erklärung für diesen Trend: Die aktuellen Entwicklungen betreffend Empfängnisverhütung. Immer weniger Frauen nehmen die Antibabypille. Das zeigt die Gesundheitsbefragung, die das Bundesamt für Statistik regelmässig durchführt. Die Entwicklung ist eindeutig. Bei Paaren, bei denen der Partner und die Partnerin zwischen 25 und 34 Jahre alt sind, setzten 2022 nur noch 19,5 Prozent auf die Pille, während es 2017 noch 32 Prozent waren. Der kleine Anstieg bei der Spirale (von 6 auf 9 Prozent) vermag den Rückgang nicht aufzuwiegen. Gleichzeitig sind unsichere Methoden wie das Kondom und natürliche Empfängnisverhütung mithilfe von Zyklus-Apps und Verhütungscomputern auf dem Vormarsch.

Antibabypille
Immer weniger Schweizerinnen nehmen die Antibabypille.Bild: Shutterstock

Ein Blick auf die Statistik der Schwangerschaftsabbrüche bestätigt: Die Pillentheorie ist plausibel, entfällt doch mehr als die Hälfte des Anstiegs bei Schwangerschaftsabbrüchen auf Frauen im Alter von 25 bis 34 Jahren.

Gesichertes Wissen gibt es zu den Motiven für Abtreibungen. In einer im Juni 2022 erschienenen Publikation hat das Bundesamt für Statistik die Motive für Schwangerschaftsabbrüche in den ersten 12 Wochen ausgewertet. Die Auswertung beruht auf Daten von 12 Kantonen und zeigt, dass psychosoziale Gründe (97 Prozent) klar dominieren. Psychiatrische Motive und somatische Gründe bei Frau (ihre Gesundheit wäre bei Aufrechterhaltung der Schwangerschaft in Gefahr) oder Fötus (nicht überlebensfähig) spielen eine marginale Rolle.

Was versteht man unter «psychosozialen Gründen»? Zum Beispiel: Die Frau ist ungewollt schwanger geworden. Sie und ihr Partner wünschen sich derzeit kein Baby. Die Frau fühlt sich in der aktuellen Lebenslage ausserstande, ein Kind zu erziehen, sie hat keinen festen Partner, befindet sich noch in Ausbildung, kann eine Mutterschaft nicht mit dem Job vereinbaren oder hat zu wenig Geld.

Die Angaben des Bundesamtes Statistik decken sich mit den Erfahrungen, von denen Thomas Eggimann aus seiner Praxis berichtet. Der stellvertretende Chefarzt bei der Frauenklinik im Spital Emmental und Generalsekretär der Schweizerischen Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe sagt: «Die häufigsten Gründe sind eine zu wenig gefestigte oder neue Partnerschaft, ein unpassender Zeitpunkt wegen einer Ausbildung, ungenügende Verhütung und immer wieder mal auch finanzielle Sorgen.»

Fast die Hälfte der Frauen waren schon Mütter

Ungenügende Verhütung spielt in der Tat ein bedeutende Rolle. Dies zeigt die detaillierte Auswertung der Daten im Kanton Waadt, welche die Universität Lausanne jährlich vornimmt. Mehr als ein Fünftel der 1605 Abtreibungen im Jahr 2022 waren das Resultat von gänzlich fehlender Verhütung. Bei einem Viertel misslang die Verhütung mit dem Kondom. Eine kleine Rolle bei Schwangerschaftsabbrüchen spielen Vergewaltigungen. Im Kanton Waadt sind sie in weniger als einem Prozent der Fälle die Ursache.

13 Kantone informieren über die Anzahl Kinder beim Zeitpunkt einer Schwangerschaft. Im Jahr 2020 hatten 47 Prozent der Frauen bereit eines oder mehrere Kinder, als sie sich für die Abtreibung entschieden. Sie finden meistens, sie hätten bereits genügend Nachwuchs.

Ein neugeborenes Maedchen liegt neben seiner Mutter nach einer Kaiserschnittgeburt, aufgenommen am 19. Juni 2020 in der Privatklinik Bethanien in Zuerich. (KEYSTONE/Gaetan Bally)
In der Schweiz werden zurzeit nur 1,33 Kinder pro Frau geboren. Deutlich unter dem theoretischen Fertilitäts-Ersatzniveau von 2,1 Kindern pro Frau.Bild: KEYSTONE

Apropos Nachwuchs: Während die Zahl der Abtreibungen neue Höchstwerte erreicht, erlebt die Schweiz eine veritable Babybaisse. 2023 kamen nur noch 80'024 Kinder zur Welt, knapp 10'000 weniger als noch 2021 und so wenig wie seit 2009 nicht mehr. Die Geburtenrate pro Frau (1,33) bewegt sich auf einem historischen Tiefststand.

Soziologieprofessorin Katja Rost, Co-Leiterin des Forschungsschwerpunkts Menschliche Fortpflanzung an der Universität Zürich, nannte im Gespräch mit CH Media drei Gründe für diesen Trend: veränderte gesellschaftliche Normen, die – zumindest aus Sicht der Einzelperson – fehlende eigentliche Notwendigkeit für Nachwuchs und auch technologische Gründe, also die Möglichkeit zur Familienplanung dank Verhütungsmethoden. (aargauerzeitung.ch/ear)

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155 Kommentare
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Die beliebtesten Kommentare
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Der Buchstabe I (Zusammenhang wie Duschvorhang)
09.07.2024 11:04registriert Januar 2020
Hmmmm.. Das ist ja komisch. Woran könnte das denn liegen liegen?

Vielleicht an fehlender staatlicher Unterstützung, strukturellem Sexismus, sinkenden Renten, Krieg in Europa, Pandemie, steigenden Lebenskosten bei gleichbleibendem Lohn, unfairer Besitzverteilung zwischen Arm und Reich, Rechtspopulismus, Klimakatastrophe, strukturellem politischem Versagen, Korruption (ehm.. tschuligom, ich meinte natürlich Lobbyismus)?

Nein.. Es sind bestimmt einfach die egoistischen Frauen, die nur an sich denken, statt ihrem Natürlichen Trieb als Geburtsmaschinen nachzukommen.
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Nickname kann nicht mehr geändert
09.07.2024 10:48registriert Juni 2024
Bei den mieten, kk und steuern plus die teuerung und den Kosten für die Kita muss mam sich 2 mal überlegen ob mann kinder möchte wenn die Löhne nicht schritt halten
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Overton Window
09.07.2024 09:25registriert August 2022
"Die Geburtenrate pro Frau (1,33) bewegt sich auf einem historischen Tiefststand".

Das sind gute Nachrichten für den Planeten. Ungefähr 100-150 Jahre auf 1 bis 1.1 zurück, und die Menschheit schafft es vielleicht zu überleben.
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