Für Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten hätte es ein Grund zur Freude sein müssen. Seit Sommer 2022 können sie selbst in der Grundversicherung abrechnen. Einer Gesetzesreform sei Dank. Davor musste ein Psychotherapeut unter Aufsicht eines Arztes – in der Regel ein Psychiater – delegiert arbeiten. Andernfalls wurde der Patient direkt zur Kasse gebeten.
Doch bei der Reform steckt der Wurm drin. Erst kam heraus, dass die Psychotherapeuten in Weiterbildung vergessen gingen. Sie konnten ihre medizinischen Leistungen auf einmal nicht mehr in jedem Fall abrechnen. Während die Lücke unterdessen geschlossen ist, bleibt der Tarifstreit bei der Psychotherapie ungelöst.
Nun keimt Hoffnung auf, dass dieser in absehbarer Zeit gelöst werden könnte. Gemäss der Föderation der Schweizer Psychologinnen und Psychologen (FSP) sind die Verhandlungen mit den Tarifpartnern auf gutem Weg und weit fortgeschritten. Es blieben noch wenige Differenzen, sagt Sprecher Florian Näf. «Wir sind jedoch zuversichtlich, dass auch diese auf konstruktive Weise ausgeräumt werden.»
Das erstaunt. Die Fronten zwischen der FSP und dem Krankenkassenverband Santésuisse sind seit Jahren verhärtet. Im Hinblick auf die Reform sollten sich beide Seiten auf einen neuen Tarif für Psychotherapeuten einigen. Weil er die Forderungen der Gegenseite für überrissen hielt, liess Santésuisse die Verhandlungen im April 2022 platzen. Der Verband wollte am bisherigen Stundenansatz von rund 135 Franken festhalten.
Zu seinem Ärger verhandelte die FSP daraufhin mit dem anderen Krankenkassenverband Curafutura weiter und erzielte eine Einigung. Seither gilt der provisorische Tarif von 155 Franken pro Stunde. Santésuisse legte in verschiedenen Kantonen Beschwerde dagegen ein und blitzte ab. Im Juli 2023 trat das Bundesverwaltungsgericht im Falle des Kantons St.Gallen gar nicht auf die Beschwerde ein. Sämtliche Beschwerden waren damit erledigt.
Beobachter reiben sich deshalb die Augen. Können sich die beiden Seiten wirklich zusammenraufen? «Zu schön, um wahr zu sein», heisst es hinter vorgehaltener Hand. Die Ernüchterung folgt auf dem Fuss. «Die Verhandlungen sind aktuell aufgrund ungenügender Datengrundlagen und unterschiedlichen Preisvorstellungen der Parteien sistiert», schreibt Santésuisse auf Anfrage.
Dazu passt: Der Verband hat sich in der Tonalität nicht gemässigt. Anfang Woche veröffentlichte er eine Medienmitteilung, in der er vor einer «Kostenexplosion» warnte. Die Kosten seien seit der Einführung des Anordnungsmodells um 350 Millionen Franken gestiegen.
Dem widerspricht wiederum die FSP. Die Kostensteigerung sei im erwarteten Rahmen, und ein bedeutender Teil sei «auf den seit längerer Zeit konstant ansteigenden Bedarf nach psychologischer Hilfe» zurückzuführen. Der Verband stützt sich dabei auf einen im Mai veröffentlichten Bericht des Bundesamtes für Gesundheit (BAG). Dieser beziffert die Mehrkosten auf 175 bis 200 Millionen.
Dass der Systemwechsel etwas kosten wird, war absehbar. Erklärtes Ziel des Bundesrates war es, dadurch den Zugang für die Betroffenen zu erleichtern. Dies, um den akuten Mangel an Therapieplätzen zu lindern. Der BAG-Bericht belegt jedoch auch, dass die Hälfte der Mehrkosten dem neuen Tarif geschuldet sind.
Für die FSP ist das gerechtfertigt. Mit dem Modellwechsel seien die Anforderungen deutlich gestiegen, und bereits zuvor seien psychotherapeutische Leistungen zu einem veralteten Tarif abgerechnet worden, betont Sprecher Florian Näf. Anders Santésuisse: Der Verband möchte den «massiven Kostenanstieg» zulasten der Grundversicherung nicht hinnehmen. Der provisorische Tarif müsse «dringend» gesenkt werden.
«Je länger die überhöhten Tarife andauern, umso höher wird das finanzielle Risiko der möglicherweise drohenden Rückzahlungen an die Versicherer.» Dies für den Fall, dass dereinst ein von beiden Seiten akzeptierter Tarif tiefer ausfällt als der jetzige provisorische. Diese Gefahr sieht auch der FSP.
Ohnehin besteht weiterhin Rechtsunsicherheit. Die Frage nach der Vergütung haben die Richter in St.Gallen offengelassen. Und der auf zwei Jahre befristete Tarif läuft Ende Jahr in elf Kantonen aus, wie FSP-Sprecher Florian Näf bestätigt. Man habe bei den Kantonen Anträge für eine Verlängerung der Tarife eingereicht. Die Antworten stehen noch aus. Theoretisch ist es möglich, dass einzelne Kantone den Antrag ablehnen und auf einen niedrigeren Tarif drängen.
Genau diese Forderung stellte auch Santésuisse Anfang Woche. Es sei jetzt an den kantonalen Behörden, auf Anfang 2025 einen tieferen provisorischen Tarif festzulegen, um so auch «mittelfristig eine stabile Versorgung» zu gewährleisten. Nach einem konstruktiven Dialog sieht das nicht aus.
Unterstützung ist auch von der Politik keine zu erwarten. Schon bei den Psychotherapeuten in Weiterbildung hatten sich National- und Ständerat nicht einigen können. Zwar hatte der Nationalrat auf eine gesetzliche Grundlage gedrängt, doch der Ständerat pfiff ihn bereits im September 2023 zurück. Die kleine Kammer lehnte eine Motion mit dieser Stossrichtung ab. In der Pflicht stünden die Tarifpartner, lautete der Tenor.
Auf verlorenem Posten stand Maya Graf (Grüne/BL). Sie forderte vergeblich, dass das Parlament in der Frage ein Machtwort sprechen müsse. Es sei «leider unwahrscheinlich», dass die Tarifpartner in den nächsten Jahren zu einer Einigung kämen. Es ist zu hoffen, dass sie nicht recht behält.