Ein Jahrzehnt haben Psychologinnen und Psychologen dafür gekämpft, dass sie ihre Therapien selbstständig über die Grundversicherung abrechnen können.
Bisher mussten sie dafür bei einer Psychiaterin oder einem Psychiater – einem «medizinischen Götti» sozusagen – angestellt sein. Wer selbstständig arbeitete, durfte seine Leistungen nicht über die Grundversicherung abrechnen, das heisst, die Patientinnen und Patienten zahlten selbst.
Im März dieses Jahres beschloss der Bundesrat das zu ändern und führte per 1. Juli 2022 mit einer Übergangsphase bis Ende Jahr das sogenannte Anordnungsmodell ein. Dieses sollte der Bevölkerung einen besseren Zugang zu psychischer Versorgung garantieren – und sorgt nun für das Gegenteil.
Das hat zwei Gründe: Erstens wollen einige Grundversicherer die Leistungen von Therapeutinnen und Therapeuten in Ausbildung nicht mehr bezahlen. Ab Januar werden damit 1500 Psychologinnen und Psychologen ohne Stelle und 10'000 Patientinnen und Patienten ohne Therapieplatz dastehen. So die Schätzungen der Föderation Schweizer Psychologinnen und Psychologen (FSP).
Zweitens sieht das Anordnungsmodell neu vor, dass Therapeutinnen und Therapeuten in Weiterbildung ein zusätzliches Jahr in einem vom Schweizerischen Institut für ärztliche Weiter- und Fortbildung (SIWF) anerkannten Ambulatorium oder Spital absolvieren. Solche Stellen gibt es aber kaum.
Marie Fournier* war gerade beim Arbeitslosenamt. Sie ist 39, hat zwei Kinder und einen Doktor in Psychologie. Sie steckt noch in der Weiterbildung zur Psychotherapeutin und sagt: «Es ist eine Scheiss-Situation. Ich kann es nicht anders sagen.»
Fournier bewirbt sich seit letztem Jahr durchgehend auf Stellen in Spitälern, die vom Schweizerischen Institut für ärztliche Weiter- und Fortbildung (SIWF) anerkannt sind. Vor drei Tagen hat sie die letzte Absage bekommen. Obwohl sie alle Kriterien erfüllt und jeweils zwei Empfehlungsschreiben mitschickt, wird sie nicht einmal eingeladen. Sie sagt: «Es ist entmutigend. Ich mache schon mein Maximum und kriege kein Interview. Ich weiss nicht, was ich noch unternehmen soll.»
Fournier arbeitet in zwei Privatpraxen in Lausanne und Sitten, wo sie fünf Patientinnen und Patienten im Alter von 19 bis 46 Jahren behandelt. Vor der Neuregelung waren es doppelt so viele und fünf weitere auf der Warteliste. Jetzt betreut sie nur noch jene, die ohne Therapie nicht klarkommen würden und medikamentös behandelt werden müssen. Die Diagnosen bewegen sich von Angst- und Essstörungen bis zu Bipolarität.
Sie sagt: «Überweisungen an Kolleginnen oder Kollegen sind unrealistisch. Alle sind ausgebucht.» Da Fournier noch in Ausbildung ist, darf sie ihre Patientinnen und Patienten ab Januar nicht mehr behandeln – auch, wenn diese für die Therapie selbst aufkommen würden.
Fournier sagt: «Es scheint, als hätte sich der Staat nicht überlegt, ob ein solcher Wechsel so schnell überhaupt umsetzbar ist. Nun, er ist es nicht.»
Fournier muss für das neue Jahr Arbeitslosengeld beantragen. Ob sie als Selbstständige Anspruch darauf hat, wird sich am 29. Dezember um 8 Uhr weisen. Dann ist ihr nächster Termin beim Arbeitslosenamt.
Es sind die Kassen des Verbandes Santésuisse, bei denen rund die Hälfte der Schweizer Bevölkerung versichert ist, die Therapien ab 2023 nicht mehr zahlen. Die Begründung: Die gesetzliche Grundlage fehle.
Die FSP sieht das anders. Auf eine Interpellation von SP-Nationalrätin Franziska Roth antwortete der Bundesrat im August 2022: «Wurde eine Leistung von einer Person in Weiterbildung erbracht, gilt sie als von der Person erbracht, welche mit der Beaufsichtigung betraut war. Die Organisation […] trägt dafür die Verantwortung und rechnet zulasten der [Grundversicherung] ab.»
Die FSP liest daraus deutlich heraus, dass die Leistungen von Personen in Weiterbildung von der Grundversicherung weiter übernommen werden. Weil die Versicherer dies aber anders sehen, forderte die FSP das Bundesamt für Gesundheit (BAG) auf, es explizit in die Verordnung zu schreiben.
Doch das BAG hält sich raus. In einer Stellungnahme schreibt das Bundesamt an watson, dass die Leistungserbringer und die Versicherer das unter sich klären sollen. Fürchtet das BAG, mit einer klaren Ansage einen Präzedenzfall zu schaffen, der sich auch auf den Status anderer Dienstleistender im Gesundheitssystem auswirken könnte? Die Regelung, dass Leistungen von Personen in Ausbildung von der Grundversicherung bezahlt werden, gilt unter anderem auch für werdende Ärztinnen und Ärzte.
Warum die Kassen Psychologinnen und Psychologen in Ausbildung plötzlich anders behandeln wollen, darüber lässt sich nur spekulieren. Eine Anfrage von watson liess Santésuisse bis zum Zeitpunkt der Veröffentlichung unbeantwortet.
Das Thema ist inzwischen in der Politik angekommen. SP-Nationalrätin Franziska Roth will – zusammen mit anderen politischen Vertreterinnen und Vertretern – im neuen Jahr das Gespräch mit der Santésuisse suchen.
Die Santésuisse und das BAG schlugen vor, die Übergangsphase bis Ende 2023 zu verlängern.
Die FSP war dagegen. In einer Stellungnahme schreibt sie, das Problem hätte sich damit nur verschoben und verschlimmert. In einem Jahr würden nur noch mehr Personen in Weiterbildung ohne Lösung dastehen. Ausserdem seien die Stellen schon im Sommer gekündigt worden. Unter diesen Umständen hätte «die verspätete Verlängerung» wenig gebracht.
Emilie Martin* bedauert den Entscheid der FSP: «Wenn die Regeln geändert werden, müssen sie auch an die Gegebenheiten angepasst werden. Das hätte in diesem Fall bedeutet, dass die Übergangsphase länger anhält als ein halbes Jahr.»
Martin ist 39 und Psychoanalytikerin in Weiterbildung. Für das Diplom fehlt ihr nur noch die Abschlussarbeit. Sie hat acht Jahre Arbeitserfahrung und 400 Patientinnen und Patienten in 7000 Therapiestunden behandelt.
Im neuen Jahr wird sie keinen Job mehr und ihre 60 Patientinnen und Patienten keine Therapeutin haben – eine Aussicht, die viel Unsicherheit auslöst.
Wer Psychotherapeutin oder Psychotherapeut werden will, muss fünf Jahre bis zum Master studieren und dann weitere fünf Jahre Weiterbildung machen, die laut FSP zwischen 35'000 und 90'000 Franken kostet.
Laut der Universität Zürich muss man 53 Weiterbildungskurse besuchen, 200 Stunden Supervision machen, 100 Stunden selbst in die Therapie gehen und 500 Stunden therapeutische Tätigkeit sowie zwei Jahre klinische Praxis zu einem Pensum von 100 Prozent vorweisen können.
Martin sagt: «Es ist ein Affront, dass man nach all dem Aufwand als Therapeutin immer noch nicht über die Grundversicherung abrechnen darf.»
Das Problem ist das zusätzliche Jahr in einem vom SIWF anerkannten Ambulatorium oder einem Spital. Die FSP schrieb im November in einer Stellungnahme: «Die verfügbare Anzahl an Weiterbildungsplätzen an den SIWF-Instituten reicht momentan nicht aus, um den erhöhten Bedarf aufgrund des Modellwechsels zu decken.»
Psychologinnen und Psychologen in Ausbildung werden also nach zehn Jahren zwar ihren Titel als Therapeutinnen und Therapeuten erhalten, aber nicht über die Grundversicherung abrechnen dürfen, weil sie das SIWF-Jahr (noch) nicht absolviert haben.
Laut einer Umfrage des GIRT (Zusammenschluss der kantonalen Verbände der Psychologinnen und Psychologen in der Westschweiz und im Tessin) sind in der Westschweiz und im Tessin 58 Prozent der Psychologinnen und Psychologen in Ausbildung von diesem Szenario betroffen. Viele von ihnen arbeiten in Privatpraxen, die vom SIWF nicht anerkannt werden.
In der Deutschschweiz gibt es in Spitälern und Ambulatorien zwar mehr akzeptierte Ausbildungsstellen, aber wenn die Verrechnung über die Grundversicherung nicht sichergestellt ist, gibt es auch da ein Problem. Laut FSP sind 30 bis 50 Prozent der Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten in Schweizer Spitälern Personen in Weiterbildung.
Martin arbeitete vier Jahre in Psychiatrien in Lausanne, Montreux und Vevey, wo sie nach eigenen Angaben mit den schwersten Fällen des Kantons Waadt in Kontakt kam – den sogenannten «patates chaudes», den Fällen, derer sich niemand annehmen will. Doch diese Erfahrung wird vom SIWF nicht anerkannt.
Nun bewirbt sie sich auf SIWF-Stellen, auch ausserkantonal, und bekommt nur Absagen. Sie sagt: «Vermutlich bin ich zu erfahren und zu teuer.» Martin hat sich schon beim BAG und bei der FSP beschwert. Jetzt will sie auch den Waadtländer Kantonsarzt Karim Boubaker, die SP-Staatsrätin Rebecca Ruiz und den zuständigen SP-Bundesrat Alain Berset anschreiben.
Auch andere Psychologinnen und Psychologen sind aktiv geworden und haben eine Petition gestartet. Ihre Position: Junge Psychotherapeuten sind systemrelevant.
Alice Dubois* steckt in derselben Situation. Sie ist 30, ausgebildete Psychologin und in einer Privatpraxis in Genf angestellt. Trotz abgeschlossener Ausbildung muss sie Ende Jahr ihren Posten räumen. Letzte Woche musste sie ihren 40 Patientinnen und Patienten sagen, dass sie ab 2023 nicht mehr über die Grundversicherung abrechnen darf.
Dubois hat im Oktober ihren Titel bekommen – trotzdem muss sie das SIWF-Jahr anhängen. Denn das Anordnungsmodell sieht vor, dass alle, die nach dem 1. Juli 2022 ihren Titel erhalten, das zusätzliche Jahr machen müssen.
Die FSP forderte daraufhin vom BAG, dass diese Regel angepasst wird: Alle, die sich vor dem Bundesratsbeschluss vom 19. März 2022 bereits für die Weiterbildung angemeldet hatten, sollten diese auch nach dem alten Modell abschliessen können. Laut FSP hätte das die Stellensituation sofort entspannt. Das BAG lehnte ab.
Für Dubois ist das unerklärlich: «Gibt es an der Universität ein neues Curriculum, dürfen alle, die im alten angefangen haben, auch in diesem abschliessen. Ich verstehe nicht, warum das hier nicht so ist. So hätte das System mehr Zeit gehabt, sich an die neuen Anforderungen anzupassen – und Stellen zu schaffen.»
Denn die Stellen, nach denen sie jetzt suchen müsse, seien teils noch gar nicht geschaffen. Das SIWF sei auf die Ausbildung von Ärztinnen und Ärzten ausgerichtet – und nicht von Psychologinnen und Psychologen.
Obwohl Dubois ab Januar arbeitslos sein wird, sorgt sie sich vor allem um die Zukunft ihrer Patientinnen und Patienten, die zwischen 17 und 73 Jahre alt sind und wegen Essstörung, Depression, Angststörung oder Trauma bei ihr in Therapie sind.
Für ihre Patientinnen und Patienten bedeute nicht über die Grundversicherung abrechnen zu können, einen Therapieabbruch. Viele von ihnen könnten sich nicht vorstellen, ohne sie weiterzumachen, sagt Dubois, einige seien schon seit fünf Jahren bei ihr. Die Angst, wegen eines Therapieabbruchs rückfällig zu werden, sei unter den Patientinnen und Patienten gross. Dubois sagt: «Mindestens zwei sind suizidgefährdet.»
Auch die Sorge, keinen alternativen Therapieplatz zu finden, sei unter den Patientinnen und Patienten sehr präsent. Du-bois sagt: «Ich bemühe mich, bis Januar für alle einen Ersatz zu finden. Aber es ist sehr schwierig.»
Laut FSP erhielten in der Schweiz zehntausende Menschen im letzten Jahr keine psychotherapeutische Behandlung, weil es an über die Grundversicherung finanzierten Therapieplätzen massiv mangelt. Mit dem Übergang zum Anordnungsmodell kommen nun weitere 10'000 Patientinnen und Patienten dazu.
* Namen von der Redaktion geändert
Unverständlich und tragisch für die Betroffenen.
Auch einer unserer internen Therapeutinnen musste deshalb gehen. Wieso verstehe ich erst jetzt so richtig... das ganze ist eine so unglaublich idiotische Situation, das ganze grenz tan Realsatire... darüber lachen können aber weder die Patienten noch die Therapeuten.. himmeltraurig..