«Wie peinlich ist das denn, dass die Schweiz der EU hinterherhinkt?»
Vom 6. bis 9. Juni wählen die EU-Bürgerinnen und -Bürger ein neues Europaparlament. Was löst das bei Ihnen aus?
Nico Semsrott: Ich bin sehr zwiegespalten. Politisch finde ich es schrecklich, dass ein Rechtsrutsch prognostiziert wird. Es macht mir Sorgen. Ich hoffe einfach, dass es nicht ganz so schlimm kommt, wie es momentan aussieht. Das ist das eine.
Und das andere?
Ich persönlich freue mich darauf, dass ich mit den Wahlen endlich aus meiner Funktion als EU-Abgeordneter raus bin. Dass ich endlich wieder frei bin. Ich habe mich in den letzten fünf Jahren als Abgeordneter überhaupt nicht wohl gefühlt. Es war eine Fehlentscheidung, mich 2019 überhaupt für die Wahl aufstellen zu lassen. Das weiss ich heute.
Warum war es eine Fehlentscheidung?
Als Abgeordneter im Europaparlament hat man nur eine bestimmte Anzahl an Werkzeugen zur Verfügung, mit denen man etwas verändern kann. Und ich kann diese Werkzeuge nicht bedienen. Ich kann es auch nicht lernen. Mein Charakter ist nicht für diese Arbeit gemacht. Ich habe ein Autoritätsproblem. Ich lasse mir von anderen Leuten grundsätzlich nichts sagen. Mit diesem Autoritätsproblem bin ich perfekt geeignet für die Bühne als Satiriker, aber nicht für ein Parlament mit strengen Hierarchien.
Mit dem Slogan «Wenn Politiker Satire machen, müssen Satiriker Politik machen» liess sich Semsrott 2019 als Spitzenkandidat für die satirische Kleinpartei «Die PARTEI» für die Europawahl aufstellen. «Die PARTEI» holte 2,4 Prozent der deutschen Wählerstimmen. Zusammen mit Martin Sonneborn, Journalist, Satiriker und «Die PARTEI»-Gründer, zog Semsrott so ins Europaparlament ein.
2021 trat Semsrott aus «Die PARTEI» aus – wegen Meinungsverschiedenheiten mit der Parteispitze. Seine Amtszeit als EU-Abgeordneter wollte er auch als Parteiloser und obwohl er unter Depressionen leidet, wie er 2021 öffentlich machte, zu Ende führen.
Mit welchen Erwartungen sind Sie 2019 ins Parlament eingezogen?
Ich wollte zumindest die Debatten mitprägen. Und ich wollte wenigstens einige Regeln, die das Parlament und die Abgeordneten selbst betreffen, beeinflussen. Aber ich merkte relativ früh, dass ich dafür gar keine Möglichkeit habe. Ein einzelner Abgeordneter hat einen Stimmanteil von 0,14 Prozent. Er ist Teil einer riesigen Kompromissmaschine. Es gibt nur sehr wenige Rädchen, an denen er drehen kann. Ich war als Satiriker zwar vielen Leuten bekannt. Viel wichtiger als diese Öffentlichkeit ist im Europaparlament aber, ein Netzwerk zu haben. Gegen die mächtigen Netzwerke in Brüssel konnte ich als Abgeordneter einer sehr kleinen Fraktion nichts ausrichten. Das zu akzeptieren, habe ich nicht geschafft.
Ist das Europaparlament gar nicht so mächtig, wie man meinen könnte?
Das muss man immer relativ sehen. Ist das Europaparlament mächtiger als das Schweizer Parlament? Aber hallo! Es kann sogar Regeln und Entscheidungen treffen, die die Schweiz als Nicht-EU-Land direkt betreffen. Aber ist das Europaparlament innerhalb der EU mächtig? Nein. Verglichen mit der Kommission und den Mitgliedsstaaten ist es schwach.
Trotzdem betonen wir Medien immer wieder, wie wichtig die diesjährige Europawahl ist. Stimmt das gar nicht?
Theoretisch sind die Regierungswahlen in Deutschland, Frankreich und Italien wichtiger als die Wahl des Europaparlaments. Und trotzdem ist diese Europawahl wichtig für die weitere Erzählung. Weil für uns Menschen die Geschichte von Bedeutung ist. Wenn jetzt ein Rechtsrutsch prognostiziert wird, der dann auch eintritt, wird das die Politik, die die EU macht, stark beeinflussen. Weil es gewisse rechtskonservative Entscheidungen legitimiert. Dafür müssen diese Entscheidungen gar nicht unbedingt vom EU-Parlament selbst getroffen werden. Wenn die Rechten aber weniger Stimmen bekommen als erwartet, wird das den weiteren Verlauf unserer Politik ebenfalls beeinflussen. Die Europawahl hat also eine sehr grosse symbolische Bedeutung.
Kurz vor den Europawahlen haben Sie das Buch «Brüssel sehen und sterben: Wie ich im Europaparlament meinen Glauben an (fast) alles verloren habe» veröffentlicht. Darin berichten Sie von zahlreichen Missständen innerhalb des Europaparlaments: fehlende Transparenz, fehlende Kontrollen, Korruption, die nicht bestraft, sondern eher belohnt wird. Was läuft in Brüssel denn grundsätzlich falsch?
Es gibt leider Klischees, die ihren Ursprung in der Realität haben. Dass die EU-Abgeordneten abgehoben sind, ist aus zwei Gründen ein berechtigtes Klischee.
Welche Gründe wären das?
Erstens: Weil es keinen grossen Bezug zur Aussenwelt gibt. Die Parlamentarier, Lobbyisten und Beamten sind eigentlich durchgehend unter sich und sprechen nur mit Menschen, die ebenso gut finanziell abgesichert sind wie sie. Das führt dazu, dass sie sich gar nicht mehr vorstellen können, wie die Lebensrealität jener aussieht, die sie ursprünglich ins Europaparlament gewählt haben. Zweitens: Weil die Wahlen viel zu selten stattfinden. Wahlen sind für Wählende immer eine Möglichkeit, mit Politikerinnen und Politikern in Kontakt zu treten. Fehlverhalten kann das Volk direkt abstrafen. Mit einer Wahl alle fünf Jahre findet dieser Kontakt – dieser Realitätscheck – aus meiner Sicht viel zu selten statt. Grundsätzlich wünsche ich mir für die EU darum mehr direktdemokratische Elemente.
So wie in der Schweiz.
Ja, da kann sich die EU etwas von der Schweiz abschauen. Andererseits kann sich die Schweiz auch etwas von der EU abschauen.
Manche dieser Missstände legte er bereits während seiner Amtszeit auf YouTube offen. Für breites Echo sorgte 2020 etwa eine Einbruchsserie im Parlamentsgebäude, die Semsrott publik machte. Bei mehreren EU-Abgeordneten – darunter Semsrott – wurden Laptops und andere Elektrogeräte gestohlen. Gemäss Semsrott hätten diese Einbrüche nur mit einem Schlüssel durchgeführt werden können. Die EU-Beamten führten allerdings erst auf Semsrotts Drängen hin Einmittlungen zur Einbruchsserie durch. Das Ergebnis dieser Ermittlungen haben die EU-Beamten bis heute nicht veröffentlicht.
Was kann sich die Schweiz von der EU abschauen?
Im EU-Parlament ist man als Abgeordneter dazu verpflichtet, seine Nebeneinkünfte anzugeben. Das ist im Schweizer National- und Ständerat nicht so. Wie peinlich ist das denn, dass die Schweiz der EU hinterherhinkt? Und das erst noch in einer demokratiepolitischen Frage?
Unser Ständerat hat sogar erst kürzlich entschieden, dass Parlamentarierinnen und Parlamentarier ihre Einkünfte aus Nebentätigkeiten weiterhin nicht offenlegen müssen.
Absurd! Da will man doch als Schweizer immer auf die EU herabblicken, aber schafft es selbst nicht, eine Grundvoraussetzung für einen wirklich demokratischen Staat zu erfüllen. Nämlich: Transparenz. Die Frage «Für wen arbeitet der oder die Abgeordnete?» ist zentral! Die Menschen müssen Bescheid wissen, damit sie gute Entscheidungen treffen können. Dass es diese Transparenz in der Schweiz noch immer nicht gibt, zeigt eigentlich nur, wie menschlich es ist, dass Mächtige ihre Macht nicht teilen und dass sie sich selbst nicht kontrollieren lassen wollen. Egal, wohin man guckt.
Einige Beispiele für diese fehlende Kontrolle der EU-Abgeordneten liefern Sie in Ihrem Buch. Etwa, dass Abgeordnete zahlreiche Spesen erstattet bekommen, ohne einen Beleg einreichen zu müssen. Auch die Kosten, um privat in den Urlaub zu fliegen, können die Abgeordneten sich vergüten lassen. Und machen sie auch. Was ist das Absurdeste, was Sie in den letzten fünf Jahren erlebt haben?
Ich glaube, das Absurdeste ist wirklich, dass man sich im Europaparlament die Regeln selbst machen kann. Das gibt es nirgendwo sonst in unserer Gesellschaft. Die Bürgerinnen und Bürger kontrolliert man bei allem und ganz oben sagt man sich einfach: «Ach, das ist zu viel Bürokratie. Die Kontrollen lassen wir einfach.» Das ist eine Ungerechtigkeit, über die ich mich irre aufrege und an die ich mich in diesen fünf Jahren nie gewöhnen konnte.
Ihre EU-Kritik im Buch kommt auch in der Schweiz gut an. Bei meiner Vorrecherche habe ich gesehen, dass die «Weltwoche», eine ...
Oh Gott! Oh Gott! Oh Gott!
Sie kennen die «Weltwoche»?
Ja ...
Die «Weltwoche» hat Ihr Buch im April zu einem ihrer «Bücher der Woche» gekürt. Der Titel des dazugehörigen Artikels: «Einfach abschEUlich». Besteht nicht die Gefahr, dass Ihre Kritik an der EU von Rechten missbraucht werden kann? Gerade, wenn Sie Ihr Buch direkt vor der Europawahl veröffentlichen?
Die Gefahr, dass Rechte etwas zu ihren Zwecken missbrauchen, besteht immer. Aus Angst vor Rechten und Rechtsextremen, Missstände in der EU nicht anzusprechen, ist aber der völlig falsche Ansatz. Wir dürfen Probleme nicht tabuisieren. Sonst können wir sie nicht lösen. In unserer Debattenkultur fehlt aus meiner Sicht linke EU-Kritik. Deshalb übernehme ich diese selbst. Das, was ich anspreche, sind massive demokratische Defizite. Und ich will, dass diese behoben werden.
Was ist denn der Unterschied zwischen Ihrer EU-Kritik und jener der Rechten?
Mein Fazit ist ein völlig anderes als jenes der Rechten. Ich möchte mehr Demokratie, mehr Zusammenarbeit und nicht weniger Demokratie und mehr Nationalismus.
Und das kommt im Publikum auch an?
Ja, das sehe ich bei den Kommentaren auf YouTube zu meiner Bühnenshow «Brüssel sehen und sterben». Da schreiben manche, sie fänden meine Kritik gut, aber sie seien gegen Gendern und gegen die EU, darum würden sie nicht verstehen, weshalb ich die Linken und Grünen zur Wahl empfehle. Das zeigt mir umso mehr, wie wichtig es ist, dass ich als Linker EU-Kritik übe und zu einem ganz anderen Schluss komme.
Semrott beim Einlösen eines seiner Wahlversprechen:
Macht die EU auch etwas richtig?
Sie macht vieles richtig. Ich sage immer: Die EU ist das beste demokratische Experiment der Erde. 27 Staaten wählen gemeinsam ein Parlament. Das gibt es sonst nirgendwo und das finde ich einfach super.
In vielen Interviews haben Sie auch gesagt: Die EU ist so etwas wie die Vereinten Nationen, nur mit Macht.
Ja, weil Entscheidungen, die von der EU getroffen werden, tatsächlich reale Konsequenzen haben. Sogar gute Konsequenzen. Was es in Sachen Verbraucherschutz gibt, in Bezug auf Umweltschutz, das ist nicht selbstverständlich, wenn man sich weltweit umschaut. Es ist zudem einfach grundsätzlich eine gute Idee, sich zusammenzuschliessen, um gegen Tech-Riesen wie Apple oder Meta etwas unternehmen zu können. Mit einer einzelnen kleinen Schweiz würden diese Mega-Unternehmen gar nicht erst reden, geschweige denn, könnte ein einzelnes, kleines Land irgendwelche Regulierungen durchsetzen.
In den letzten fünf Jahren haben Sie demnach den Glauben an vieles, aber nicht an die EU verloren?
Ja. Es braucht Skandale, damit sich etwas bewegt. Die Aussichten, dass die EU gegen Korruption vorgeht, waren noch nie so gut wie jetzt. Weil sich so viele Menschen in unterschiedlichen Ländern dafür einsetzen. Dass ich als Stimmberechtigter Leute wähle, die sich für diese Verbesserungen einsetzen, gehört auch dazu. Es ist eine unglaubliche Leistung, sich nach Jahrhunderten der Kriege darauf zu einigen, dass man sich zusammensetzt und gemeinsam Lösungen für aktuelle Probleme sucht. Die EU ist die friedlichste Art, wie man das machen kann.
Das klingt hoffnungsvoll. Das ist man von Ihnen gar nicht gewohnt.
Ja, ich bin davon überzeugt, dass es die Missstände von heute in der EU eines Tages nicht mehr geben wird. Es wird einfach dauern. Die Geschichte hat gezeigt, dass Fortschritt unglaublich zäh vorangeht. Aus progressiver Sicht zu langsam und manchmal auch mit der Tendenz, Rückschritte zu machen. Aber er geht voran. Das Frauenstimmrecht ist der beste Beweis. Das hat ja sogar die Schweiz irgendwann hingekriegt.
