Herr Kurteshi, wie sieht derzeit die Corona-Situation im Kosovo aus?
Sami Kurteshi: Schlecht. Wir sind eines der europäischen Länder, wo die Infektionszahlen am stärksten steigen. Derzeit gibt es pro Tag etwa 200 Neuinfektionen und insgesamt sind seit Beginn der Krise über 100 Personen gestorben. Im Vergleich mit der Schweiz, die etwa viermal mehr Einwohner hat als der Kosovo, sind das dramatische Zahlen.
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Der Kosovo gilt als der 27. Kanton der Schweiz. Jetzt gehört er laut Bundesamt für Gesundheit zu den Corona-Risikogebieten. Hört man diesen Sommer auf Kosovos Plätzen tatsächlich kein Schweizerdeutsch?
Sami Kurteshi: Leider kaum. Was am meisten auffällt: Normalerweise wären unsere Strassen Mitte Juli voll von Autos mit Zürcher, Genfer oder St. Galler Nummernschildern. In der Stadt Gjilan, dort wo ich ursprünglich herkomme, hat es im Sommer normalerweise doppelt so viele Autos. Und weil die Strassen so eng sind, bilden sich den ganzen Tag über grosse Staus. Das gehört irgendwie zum Strassenbild im Juli und August. Ausserdem sind die Bars und Restaurants jeweils voll und das Leben läuft auf Hochtouren. Jetzt ist alles ruhig wie in den Frühlings- oder Herbstmonaten.
Praktisch jede kosovarische Familie hat Angehörige im Ausland. Viele davon in der Schweiz. Was bedeutet es, wenn all diese Leute dieses Jahr nicht kommen?
Am allermeisten bedeutet es wirtschaftliche Einbussen ungeahnten Ausmasses. Etwa ein Drittel der kosovarischen Bevölkerung lebt im Ausland. Kommen viele von diesen Leuten im Sommer nicht nach Hause, dann bricht der Konsum komplett ein. Das Problem des Kosovos ist, dass wir keine wichtigen Produktionsstätten haben, die Waren exportieren. Seit über einem halben Jahrhundert ist der einzige Exportartikel des Kosovos die Menschen.
Und ohne diese Menschen, die im Sommer zurückkommen und konsumieren, kollabiert die Wirtschaft?
Ob sie kollabiert, werden wir sehen. Es wird für viele schwierig werden, das ist klar. Der eine oder andere Laden wird Konkurs gehen. Ich gebe Ihnen ein Beispiel: Mein Bruder besitzt drei Minimarkets. Er sagt, im Juli und August verzehnfacht sich sein Umsatz jeweils. Danach gehen die Zahlen wieder runter und im Dezember, um die Weihnachtsferien, steigen sie wieder.
Ihr Bruder lebt also von den Ferien der Ausland-Kosovaren?
Das tun viele. Dank den Sommermonaten kann er die Verluste der anderen Monate auffangen. So schafft er es jeweils über die Runden.
Und was macht Ihr Bruder dieses Jahr, wenn die Leute fernbleiben?
Er hat circa 40 Mitarbeiter und er versucht, seine soziale Verantwortung, die er ihnen gegenüber hat, so gut es geht, wahrzunehmen. Aber wenn kein Geld reinkommt, kann er schon bald keine Löhne mehr bezahlen. Vom Staat gibt es kaum Überbrückungshilfen. Wenn es so weitergeht, wird es vor allem nach dem Sommer schwierig und vielen Familien wird ein harter Winter bevorstehen.
Sommerzeit ist im Kosovo auch Heiratszeit. Viele Schweiz-Kosovaren reisen im Juli und August in die Heimat, um mit den Verwandten die Hochzeit zu feiern. Wie ist es dieses Jahr?
Die Hochzeiten fallen ins Wasser. Und das ist nicht nur schade um die schönen Feste, sondern es ist ein ganzer Wirtschaftszweig, der wegbricht. Im Kosovo gelten Hochzeiten schon fast als eigene Industrie. Da steckt viel Geld drin. Es gab gar Hochzeitssängerinnen und -sänger, die protestiert haben.
Protest von Hochzeitssängerinnen?
Tatsächlich! Im Kosovo leben Menschen davon, an Hochzeiten aufzutreten, zu musizieren und zu singen. Für sie ist es ein Drama, dass Hochzeiten jetzt verboten sind.
Gibt es Schweiz-Kosovaren, die trotz den Empfehlungen des BAG jetzt einreisen?
Es gibt bestimmt ein paar wenige, aber viele sind es nicht. Während ich in Pristina im Sommer vielen alten Bekannten aus der Schweiz über den Weg laufe, habe ich bis jetzt erst einen einzigen getroffen. Einen alten Studienkollegen aus Zürich. Er ist selbstständig und hat gesagt, er habe kein Problem, sich zu Hause zwei Wochen in Quarantäne zu begeben.
Finden Sie die Warnung des BAG übertrieben?
Nein. In diesem Moment rate ich niemandem, in den Kosovo zu reisen. Das Ansteckungsrisiko ist sehr gross und die medizinischen Möglichkeiten sind gering. Es lohnt sich nicht, diese Risiken in Kauf zu nehmen.
Welche Massnahmen trifft die Regierung?
Die Regierung ist ein Chaos. Nach dem Sturz von Albin Kurti im März wird das Land nun von Ministerpräsident Avdullah Hoti und Präsident Hashim Thaci geführt. Letzterer hat in der Vergangenheit viel gelogen und muss sich jetzt wegen Kriegsverbrechen vor dem internationalen Gerichtshof in Den Haag verantworten. Das Vertrauen der Bevölkerung fehlt. Das spürt man auch bei den Corona-Massnahmen.
Wie?
In den fünf grossen Städten gilt ab 21 Uhr bis 5 Uhr eine Ausgangssperre. Aber niemand hält sich daran. Die Ordnungskräfte haben zudem keine gesetzliche Grundlage, um gegen die Leute vorzugehen, die sich der Sperre entziehen. Die Läden und Restaurants sind normal geöffnet, die Abstandsregelung wird nicht eingehalten, kaum jemand trägt eine Schutzmaske. Viele Leute sind schlecht informiert und verstehen nicht, was gerade passiert.
Wie sieht die Situation in den Spitälern aus?
Derzeit sind über 300 Personen zur Behandlung in den Spitälern. Die Zustände dort sind schlecht. Die Frau meines Bruders ist Oberärztin der Infektiologie im Spital in Gjilan. Als ich sie kürzlich traf, bin ich erschrocken. Sie sah unfassbar müde aus. Sie sagte mir, sie arbeite derzeit in 20-Stunden-Schichten und leide sehr unter dem grossen Druck.
Das klingt nicht gut. Gerade in einer Krisensituation wie dieser würde man gerne mit der eigenen Familie näher zusammenrücken. Doch das ist bei Ihnen nicht möglich ...
Klar, ich würde meine Familienangehörigen aus der Schweiz und meine Freundinnen und Freunde sehr gerne wieder mal sehen. Aber ich verstehe, dass das jetzt einfach nicht möglich ist. Wir telefonieren viel und können uns per Video sehen. Das ist zwar nicht dasselbe, aber immerhin etwas. Nächstes Jahr holen wir dann all die Hochzeiten und Dorffeste nach. Hoffentlich.