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Interview

Charles Morerod: Der höchste Katholik der Schweiz im Interview

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«Ich habe zu lange gewartet, die Probleme des sexuellen Missbrauchs deutlich zu benennen»

Charles Morerod bestätigt, dass seine Wahl zum Bischofspräsidenten eine Notlösung ist ‒ und sagt, weshalb er eine Rüge des Vatikans zum Umgang mit Missbrauchsfällen als Lob empfindet.
21.12.2024, 20:51
Julian Spörri und Kari Kälin / ch media
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Der Eingang zum Sitz des Bischofs des Bistums Lausanne, Genf und Freiburg befindet sich direkt neben einem Tattoostudio, mitten in Freiburg. Kurz vor Weihnachten empfängt Charles Morerod CH Media zum Interview. Die katholische Kirche steht wegen des Missbrauchskandals unter Druck. Morerod selbst musste im letzten Jahr notfallmässig operiert werden. Trübsal blasen mag der höchste Schweizer Katholik deswegen nicht. Im Gegenteil: Im Gespräch blitzen immer wieder Humor und Selbstironie auf.

Charles Morerod (Freiburg, 16. Dezember 2024)
Ein Freiburger präsidiert neu die Schweizer Bischöfe: Charles Morerod.Bild: Andrea Zahler

Charles Morerod, Sie haben im September 2023 eine Hirnblutung erlitten und waren mehrere Tage im Spital. Wie geht es Ihnen heute?
Charles Morerod:
Gut, danke. Ich darf diesen Winter zum Beispiel wieder Ski fahren. Meine Chirurgin hat mir nach drei Kontrollen bestätigt, dass ich vollständig genesen bin. Ich hatte Glück. Eine Ärztin aus Freiburg sagte mir: «In Freiburg hätten Sie das nicht überlebt.» Denn in der Schweiz gibt es nur in Genf und in Bern ein spezialisiertes Zentrum für Hirnchirurgie.

Sie waren in Genf, und die kurze Distanz zum Spital war entscheidend.
Ja. Ich gab an diesem Tag dreizehn Interviews zur Missbrauchsstudie, die tags zuvor in Zürich vorgestellt worden war. Abends wurde ich notfallmässig im Unispital Genf operiert.

Wie haben Sie bemerkt, dass etwas nicht stimmt?
Am Ende des Tages des Interviewmarathons konnte ich nicht mehr laufen. Man musste mich auf einem Bürostuhl durch die Gänge des Westschweizer Radio- und Fernsehens (RTS) schieben. Deshalb suchte ich sofort das Spital auf.

Der Druck wegen der Missbrauchsstudie: Hat das eine Rolle gespielt? Oder war es eine glückliche Fügung, dass Sie deswegen in Genf waren?
Letzteres trifft zu. Im Juni 2023 hatte ich einen Velounfall. Ohne dass ich es bemerkte, bildete sich langsam eine Einblutung zwischen zwei Hirnhäuten. Ich bekundete schon einen Tag vor der Studienpublikation Mühe beim Gehen, dann verschlechterte sich mein Zustand.

Was ist Ihnen vom Spitalaufenthalt besonders in Erinnerung geblieben?
Der Professor für Neurochirurgie am Universitätsspital meinte: «Wir mussten in der Stadt von Calvin sein, damit eine Muslimin (Morerods Chirurgin ist Muslimin, Anmerkung der Redaktion) Löcher in den Kopf eines katholischen Bischofs bohrt.» Nachher habe ich diesen Satz gegenüber der muslimischen Chirurgin wiederholt. Sie erwiderte: «Es ist besser, wenn man sich liebt.» Mit anderen Worten: Wenn sich die Religionen einander achten, wird die Welt friedlicher.

Charles Morerod
Er ist ab nächstem Jahr das Gesicht der katholischen Schweiz: Anfang Dezember wählte die Bischofskonferenz Charles Morerod, 63, zu ihrem Präsidenten. Morerod wuchs in Riaz im Kanton Freiburg auf. 1983 trat er dem Orden der Dominikaner bei und wurde 1988 zum Priester geweiht. Nach Lehrtätigkeit an verschiedenen Hochschulen wurde er im November 2011 zum Bischof von Lausanne, Genf und Freiburg gewählt. Der Vatikan kritisierte ihn jüngst wegen formaler Fehler im Zusammenhang mit Missbrauchsfällen, warf ihm aber keine gröberen Versäumnisse vor.

Was ging Ihnen nach dieser bedrohlichen Situation durch den Kopf?
Dass ich ein zweites Leben geschenkt bekommen habe. Und dass ich etwas daraus machen muss. Deshalb habe ich in einem Interviewbuch mit der «Le Temps»-Journalistin Camille Kraft ausdrücklich das gesagt, was ich denke, aber früher nicht zu sagen wagte. Ich habe zum Beispiel zu lange gewartet, die systematischen Probleme des sexuellen Missbrauchs in der katholischen Kirche deutlich zu benennen, besonders mit Blick auf die Opfer.

Der Papst ist 88-jährig und immer wieder krank. Kann man ein solches Amt mit angeschlagener Gesundheit ausführen?
Der Papst kann nicht mehr gut gehen, aber im Kopf ist er klar und in der Lage, viel zu arbeiten. Ich habe ihn letztmals Ende November getroffen. Er wirkte müde, vielleicht auch, weil er an diesem Tag ein langes Gespräch mit einem Bischof aus dem Libanon geführt hatte. Da darf man müde sei. Später habe er sich wieder erholt, hiess es aus Rom.

Könnten Sie sich vorstellen, mit 88 Jahren noch Bischof zu sein?
Es gibt zum Glück eine Altersbeschränkung: Mit 75 Jahren müssen Bischöfe zurücktreten.

Sie sind 63-jährig und wurden Anfang Dezember auch deshalb zum Präsidenten der Bischofskonferenz gewählt, weil die anderen Mitglieder zu alt sind. In den Medien wurden Sie als «Notlösung» bezeichnet. Trifft Sie das?
Nein. Es stimmt ja. Es gab keine einfache Alternative zu mir. Jetzt in der Schweiz und in anderen Ländern sind die Bischöfe eine Gerontokratie, eine Herrschaft der Alten. Ich würde ruhiger schlafen, wenn ich nicht Präsident der Bischöfe sein müsste.

Sie mögen dieses Amt nicht?
Nein. Es ist mühsam. Niemand macht das gerne.

Weshalb?
Es bedeutet mehr Arbeit, vor allem zusätzliche Sitzungen und weniger Direktkontakt mit Gläubigen. Als Mitte Januar meine Rekonvaleszenz beendet war, mahnten mich meine Ärzte, ich solle nicht zu viel arbeiten. Mein erster freier Tag danach war am 5. Juli. Ich habe also jetzt schon kaum genug Zeit, um mich um die Diözese zu kümmern. Ausserdem wird man als Präsident sichtbarer und stärker öffentlicher Kritik ausgesetzt. Das gehört zum Jobprofil, wie bei Politikern.

Charles Morerod (Freiburg, 16. Dezember 2024)
Die Energie ist zurück: Bischof Morerod gestikuliert im Gespräch mit CH Media.Bild: Andrea Zahler

Wie wollen Sie eine Aufgabe gut erfüllen, die Sie als mühsam empfinden?
Ich würde von mir nie behaupten, dass ich es gut mache. Aber ich versuche, mein Bestes zu geben.

Hat der Präsident der Bischofskonferenz mehr Macht als die anderen Bischöfe?
Höchstens ein bisschen. Ich bin der Erste unter Gleichen, wie der Bundespräsident. Ich kann die Traktandenliste bestimmen und sagen, wie lange wir über etwas sprechen. Ich kann entscheiden, wann wir Pause machen. Wobei die anderen Mitglieder sowieso immer zustimmen, wenn ich eine Pause vorschlage.

Das Präsidium als Last: Gibt es gar nichts Freudiges?
Doch. Es hat aber nichts mit dem Präsidialamt zu tun. Ich bin selbst überrascht, dass immer mehr erwachsene Menschen zum Glauben finden. Als ich 2011 zum Bischof geweiht wurde, gab es in meinem Bistum eine Firmung für Erwachsene pro Jahr. Jetzt sind es vier, obwohl viele Erwachsene auch in Sprachmissionen oder gleichzeitig mit Jugendlichen gefirmt werden. Viele Menschen kommen zur Kirche, weil sie sonst in der Gesellschaft keine Hoffnung finden.

Letzten Herbst kamen Vorwürfe gegen Sie auf wegen Ihres Umgangs mit Missbrauchsfällen. Sie sagten damals, Sie würden zurücktreten, wenn Sie sich grobe Fehler zu Schulden hätten lassen kommen. Ist ein Rücktritt mittlerweile vom Tisch?
Nein, der Gedanke ist immer in meinem Kopf. Aber die Post, die ich jüngst vom Vatikan erhalten habe, stimmt mich positiv.

Der Vatikan kam zum Schluss, dass Sie keine strafbaren Handlungen begangen, aber kirchenrechtliche Prozeduren verletzt haben.
Ja, und dazu stehe ich auch. Ich habe bei Verdachtsfällen nicht immer kanonische Untersuchungen eingeleitet, weil mir die Opfer sagten: Diesen kircheninternen Untersuchungen trauen wir nicht, die Polizei soll die Vorkommnisse untersuchen. Darum habe ich die Fälle jeweils der Polizei gemeldet. Auch sie sagte mir: Leiten Sie keine internen Untersuchungen ein, bevor sie zu uns kommen. Andernfalls könnte ein Betroffener von den Vorwürfen erfahren und Beweise vernichten. Diese Problematik hat auch der Vatikan erkannt und erstmals Verständnis für mein Vorgehen gezeigt. Vor einigen Wochen schrieb man mir, dass ich mit dem Einleiten einer kanonischen Untersuchung zuwarten dürfe, solange ich mit der Polizei zusammenarbeite.

Sie sehen die Rüge aus dem Vatikan als Lob?
Ein bisschen, ja. Natürlich sage ich nicht, dass ich alles gut gemacht habe. Aber prinzipiell bin ich überzeugt: Die Untersuchung durch die weltliche Justiz hat Priorität.

Der Vatikan rügte Sie auch in einem zweiten Punkt: Sie sollen bei der Besetzung von Kirchenämtern die Eignung der Kandidaten zu wenig abgeklärt haben. Das ist kein Lob.
Nein, und diese Mängel habe ich auch selbst erkannt, bevor ich vom Vatikan dafür kritisiert wurde. Wenn wir heute einen Priester ernennen, prüfen wir die Person sehr aufmerksam. Noch vor fünf oder sechs Jahren war das anders.

Was haben Sie konkret geändert?
Heute machen wir mehr Nachforschungen zu Personen. Dazu gehört das Einholen von Strafregisterauszügen, das ist seit langem selbstverständlich. Wir versuchen aber auch, mögliche Probleme in der Vergangenheit zu entdecken und zu analysieren. Als vor vier Jahren in Freiburg ein Missbrauchsskandal publik wurde, sagte ich: Wir müssen vom Vertrauens- zum Misstrauensprinzip übergehen. Viele in der Kirche haben diese Aussage kritisiert. Ich möchte darum betonen: Nur weil wir vom Vertrauensprinzip abkommen, heisst das nicht, dass wir bei allen Priestern schuldhaftes Verhalten vermuten.

Werden Priester heute zu Unrecht unter Generalverdacht gestellt?
Ja. Für die Priester ist die Situation sehr schwierig. Einer sagte dieses Jahr in einem Interview zu seiner Weihe, er frage sich, wann er angeschuldigt werde. Diese Angst ist verbreitet.

Die Zahl der Kirchenaustritte erreicht Rekordwerte. Gleichzeitig gibt es so wenig Taufen und Hochzeiten wie nie. Bereitet Ihnen der Bedeutungsverlust der katholischen Kirche Sorgen?
Schauen Sie: Als ich im Jahr 1988 Priester wurde, hatten ich und andere Priester bei den Hochzeiten den Eindruck, dass viele Leute nicht wirklich gläubig sind. Sie heirateten in der Kirche, weil es die Grosseltern wollten. Sie tauften ihre Kinder, weil es die Grosseltern wollten. Diese Kinder wussten nie, warum sie getauft worden sind. Ihre Eltern konnten es ihnen nicht erklären. Heute fragen sich diese Menschen: Warum bin ich eigentlich in der Kirche? Viele wissen es nicht und treten aus. Die Skandale machen die Situation noch schlimmer.

Charles Morerod, Vizepraesident der Schweizerischen Bischofskonferenz, SBK, und ab 1. Januar 2016 neuer Praesident der SBK, anlaesslich einer Medienkonferenz der Schweizer Bischofskonferenz, am Freita ...
Charles Morerod im Jahr 2016.Bild: KEYSTONE

Ist es für Sie eine Erleichterung, wenn nur jene in der Kirche bleiben, die sich wirklich mit ihr identifizieren?
Gewissermassen, ja. Als ich frisch zum Priester geweiht wurde, sagten wir uns oft: Es ist mühsam, wenn Personen nur in der Kirche zum Traualtar schreiten, weil es einer gesellschaftlichen Erwartung entspricht.

Was tun Sie als Bischof, um das Vertrauen der Gläubigen zurückzugewinnen?
Ich versuche, die Dinge klar beim Namen zu nennen. Und mit den staatlichen Behörden zusammenzuarbeiten, um Missbrauchsfälle aufzuarbeiten.

Ist die Kirche genug lebendig?
Ja und nein. Sie ist lebendig, aber nicht lebendig genug. Gerade in den Städten beobachte ich Positives: Junge Menschen bringen dort frischen Wind in die Kirchen. Auch Jugendliche vom Land kommen in die Stadt, weil sie in ihrem Dorf die einzig Jungen in der Kirche wären.

Apropos Jugend: Waren Ihre Eltern einverstanden, dass sie Priester werden wollen?
Sie waren am Anfang ziemlich unglücklich. Mein Vater war reformiert und sprach nicht oft über religiöse Themen. Meine Mutter studierte als Kind in Schulen von Ordensschwestern. Ihr Eindruck war, dass viele Kirchenleute unglücklich sind. Meine Eltern waren sehr überrascht über meinen Entscheid. Mein Vater sagte, die Idee sei so überraschend, dass sie von Gott kommen müsse.

Fiel es Ihnen schwer, auf die Gründung einer Familie zu verzichten?
Ja, als junger Mann wollte ich gerne einmal Kinder haben. Bis ich eines Tages auf der Strasse einen Moment der Berufung hatte und mir klar wurde, dass ich Priester werden muss.

Sollten katholische Priester künftig heiraten können?
In einem Radiointerview sagte ich einst: Wenn es so weit kommt, wird es mich nicht traumatisieren. Wenn es nicht passiert, wird es mich auch nicht traumatisieren. Kurzum: Ich sehe im Zölibat Vorteile und Nachteile. Persönlich bin ich der Ansicht, dass mir Gott genug gibt für ein erfülltes Leben. Ob das für alle Priester gilt, ist für mich weniger klar.

Letzte Frage: Haben Sie einen Weihnachtswunsch?
Weihnachten ist ein Fest des Friedens. Diesen brauchen wir mehr denn je. Jesus sagte: Liebe deine Feinde. Das scheint mir die einzige Möglichkeit zu sein, um die Kriege auf dieser Welt zu beenden. (aargauerzeitung.ch)

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