Frau Spehn, der Begriff ist in aller Munde: Was ist konkret unter Biodiversität zu verstehen?
Eva Spehn: Biodiversität ist die Vielfalt der Pflanzen und Lebewesen– und zwar auf verschiedenen Ebenen. In der Landschaft gibt es verschiedene Ökosysteme: Wiesen, Wälder, Seen, Sümpfe, Auen, Moore. Dann gibt es unterschiedliche Arten und innerhalb dieser Arten wiederum gibt es genetische Vielfalt, die wichtig ist, damit sich die Arten an Wandel anpassen können. Je mehr Ökosysteme, Arten und genetische Vielfalt es gibt, desto besser ist das für die Natur und desto höher sind die Ökosystemleistungen.
Das sind?
Zusammengefasst kann man sagen, das sind jene Leistungen, die die Natur für uns Menschen erbringt. Dazu zählen beispielsweise die Bestäubung von Nutzpflanzen, die Abscheidung von CO2, der Schutz vor Überflutungen, die Erholungsfunktion der Natur, die Bodenbildung oder die Produktion von nachwachsenden Rohstoffen.
Warum steht die Biodiversitätskrise im Schatten der Klimakrise?
Das frage ich mich auch immer wieder. Denn die Biodiversitätskrise ist mindestens so wichtig wie die Klimakrise. Vielleicht liegt es daran, dass der Rückgang der Biodiversität noch nicht so spürbar ist. Wobei zumindest mit dem Insektenschwund vielen schon bewusst wird, was wir hier aufs Spiel setzen. Grund für die geringe Publizität der Biodiversitätskrise ist wohl auch, dass man viele betroffene Organismen nicht sieht und ihr Verschwinden langsam stattfindet. Es verschwinden Lebensräume, Individuen, Arten und Gene. Der Biodiversitätsschwund lässt sich schlecht nur an einer Zahl festmachen. Und viele Leute denken noch, je saftig grüner eine Wiese ist, umso besser, dabei leben in stark gedüngten Wiesen nur noch sehr wenig Arten.
Wie steht es um die Biodiversität in der Schweiz?
Die Hälfte der Lebensräume in der Schweiz ist auf der roten Liste, zudem ist ein Drittel aller beobachteten Arten gefährdet. Hinzu kommt: In den letzten zehn Jahren hat sich an dieser Situation überhaupt nichts verbessert. Gleichzeitig nimmt der Druck auf die Biodiversität nicht ab. Im Gegenteil: Es werden weiterhin wertvolle Kulturböden versiegelt, und die Umnutzung von Landschaften in Siedlungen oder intensive Landwirtschaftsgebiete hält weiter an. All diese Punkte zeigen, dass die Biodiversität in der Schweiz in einem besorgniserregenden Zustand ist.
Woran zeigt sich dieser schlechte Zustand?
Wir stellen schon jetzt fest, dass die Ökosystemleistungen zurückgehen. Das zeigt sich beispielsweise bei den Mooren: Diese erfüllen in intaktem Zustand eine enorme Regulierungsleistung und wirken mit der Absorption von Treibhausgasen dem Klimawandel entgegen. Die globalen Ökosysteme schlucken die Hälfte der von uns verursachten Treibhausgase. Geschieht das nicht mehr oder nur noch mit verminderter Absorptionsleistung, schreitet der Klimawandel noch schneller voran.
Wie hängen denn Klimawandel und Biodiversität zusammen?
Es sind Zwillingskrisen, die sich gegenseitig beeinflussen und verstärken. So ist etwa der Klimawandel einer der wichtigsten Treiber der Biodiversitätskrise. Denn durch den Klimawandel verschieben sich Lebensräume. Wo für gewisse Tier- und Pflanzenarten lange optimale Temperaturen herrschten, wurde es ihnen nun zu heiss und sie müssen ihre angestammte Heimat verlassen. Andererseits wird der Klimawandel ein stückweit durch die Ökosysteme – wie etwa die CO2-speichernden Moore – abgepuffert. Wenn dann allerdings die Ökosysteme leiden, dann bleibt dieser Effekt aus. Die treibenden Kräfte – sowohl für den Klimawandel als auch für den Biodiversitätsschwund – sind die gleichen. Allen voran ist das der durch unseren Überkonsum verursachte grosse ökologische Fussabdruck.
Die Schweiz setzte sich zum Ziel, bis Ende 2020 rund 17 Prozent der Landesfläche für Biodiversitäts-Kerngebiete zu reservieren. Das hat nicht geklappt. Wieso nicht?
Es ist sehr schwierig, in der Schweiz Gebiete mit Vorrang für Biodiversität zu schaffen. Das funktioniert nur, wenn alle helfen – der Kanton, die Gemeinde, die Landbesitzer. Die Schweiz arbeitet aktuell an der sogenannten ökologischen Infrastruktur. Das heisst, bestimmte Flächen sollen reserviert werden für die Biodiversität. Hier muss man bei der Umsetzung mutig sein. Wenn man eine Autobahn baut, dann müssen auch manche Flächen umgenutzt werden. Dasselbe sollte auch für die Natur gelten.
Die Schweiz als dicht bevölkertes Land hat es allerdings schwieriger, genügend Fläche für den Naturschutz freizuschaufeln.
Das stimmt, aber es ist möglich. Es gibt sehr viele Flächen, die so genutzt werden können, dass sie der Biodiversität nicht schaden oder den Lebensraum sogar erst herstellen, gerade in einer Kulturlandschaft. Biodiversität kann beispielsweise auch in der Stadt gefördert werden. Auch die Landwirtschaftsgebiete funktionieren auf Dauer nur, wenn ein Teil davon naturnah gestaltet ist.
Welche Rolle spielt die Landwirtschaft?
Tatsächlich hat die Landwirtschaft einen grossen Einfluss. In der Schweiz werden noch immer viel zu viele Pestizide und Dünger ausgetragen, der Boden wird häufig zu intensiv bewirtschaftet. Zudem gibt es viele Subventionen, die biodiversitätsschädigende Auswirkungen haben. Bei der Einführung von Subventionen in allen Sektoren, also auch beim Verkehr, Energieproduktion, Siedlungen und vielen anderen, wurde die Wirkung auf die Biodiversität oft nicht mitgedacht. Die Summe der Subventionen, welche die Biodiversität schädigen, liegt bei etwa 40 Milliarden Franken und ist damit rund vierzigmal höher als die gesamten Ausgaben für die Biodiversitätsförderung.
Doch der Bauernverband wehrt sich allen voran gegen zusätzliche Biodiversitätsförderflächen.
Ich komme vom Land, ich kenne die Position der Bäuerinnen und Bauern ganz gut. Und ich weiss, dass es hart ist: Viele machen schon sehr viel für die Natur und finden, das werde zu wenig wertgeschätzt. Ihr Geschäft ist ja in erster Linie die Produktion von Lebensmitteln. Aber dabei kann man mehr oder weniger Schaden anrichten oder gar noch einen Mehrwert für die Natur schaffen. Es ist ein schmaler Grat, aber das Ziel sollte sein, gemeinsam einen Weg zu finden, um nachhaltiger Landwirtschaft zu betreiben. Letztlich hilft es den Bauern auch nicht, wenn ihre Lebens- und Wirtschaftsgrundlage durch Bodendegradierung oder Erosion verloren geht, oder die Bestäuber verschwinden.
In einem Bericht schreibt das Biodiversitätsforum, dass die ökologische Infrastruktur auf mindestens 30 Prozent der Landesfläche ausgeweitet werden muss. Woher kommt diese Zahl?
Diese Forderung stützt sich auf Erkenntnisse aus der Wissenschaft. Es zeigt sich, dass es ungefähr 30 Prozent der Landesfläche braucht, damit die Arten in ihren angestammten Lebensräumen überleben können. Biodiversität findet in der Fläche statt. Das heisst aber nicht, dass 30 Prozent der Schweiz unter Schutz gestellt werden müssen, sondern die wertvollsten Gebiete und Lebensräume gut zu schützen, und mit weiteren Flächen, die mit Vorrang für Biodiversität bewirtschaftet werden, zu ergänzen und zu vernetzen. Zur ökologischen Infrastruktur zählen auch Gebiete, die nachhaltig sprich extensiv bewirtschaftet werden.
Welches Ziel verfolgt die Schweizer Delegation in Montréal?
Wir wollen am Ende dieser Konferenz ambitioniertere Ziele haben für den Schutz der Biodiversität. Sie müssen messbar und verbindlich sein, sodass sich das Engagement der Staaten vergleichen lässt. Dadurch entsteht ein gewisser Druck, die Massnahmen auch tatsächlich umzusetzen. Denn darauf kommt es letztlich an. Und noch etwas liegt uns am Herzen.
Ja?
Die Biodiversitätskrise lässt sich nicht nur mit besserem Naturschutz lösen, sondern braucht Veränderungen in allen Sektoren und Lebensbereichen. Gleich wie der Klimawandel sollte auch die Biodiversität künftig bei jedem Entscheid mitberücksichtigt werden. Egal ob beim Hausbau oder beim Einkauf: Man sollte immer darauf schauen, die Biodiversität möglichst nicht zu schädigen. (bzbasel.ch)