Ueli Maurer erscheint im Kurzarmhemd zum Interview. Das Jacket hat er dabei, für den Fall, dass auch ein Fotograf kommt. «Ich möchte ja nicht gegen das Kollegialitätsprinzip verstossen», witzelt er. Es ist Mittwoch, am Morgen traf sich der Bundesrat zu seiner ersten Sitzung nach den Sommerferien. Just am Wochenende fiel Maurer mit umstrittenen Aussagen zum Ukraine-Krieg auf, für die er Kritik erntete. Er sprach von einem Stellvertreterkrieg zwischen der Nato und Russland, der auf dem Buckel der Ukraine ausgetragen werde und nicht von einem Angriffskrieg Russlands, wie es die offizielle Haltung des Bundesrates ist.
Einen Rüffel von den Regierungskollegen habe es dafür an der Sitzung nicht gegeben, sagt Maurer – und erklärt sich. Auch der ukrainische Präsident Selenski sage fast täglich, die Ukrainer kämpften für die westlichen Werte und unsere Freiheit, dafür bräuchten sie Waffen aus dem Westen. Und Maurer stellt klar: «Ich stehe hinter der Übernahme der EU-Sanktionen gegen Russland.» Sein Departement arbeite bei der Umsetzung mit. Und bei der Übernahme des ersten Sanktionspakets sei die Schweiz gar weitergegangen als die EU, weil auch die Kryptowährungen einbezogen wurden. «Wir bremsen sicher nicht», sagt Maurer. Alles andere seien bösartige Unterstellungen der Medien. Problematisch für das Kollegialitätsprinzip und die Zusammenarbeit im Bundesrat seien im Übrigen vor allem die Indiskretionen.
Nach der obligaten Medienschelte sagt Maurer irgendwann: «Genug gejammert. Jetzt muss ich noch diese Abstimmung gewinnen.»
Gemäss Umfragen steht die Verrechnungssteuerreform auf der Kippe. Weshalb haben es Steuervorlagen so schwer an der Urne?
Ueli Maurer: Steuervorlagen sehen komplex aus. Die Leute haben den Reflex, Nein zu sagen, wenn sie etwas nicht auf Anhieb verstehen. Zudem schlägt immer die Angst durch, dass man mehr bezahlen muss, wenn man etwas ändert. Und dann hat die Wirtschaft in den letzten Jahren viel Vertrauen verloren.
Der Vertrauensverlust geht weit hinein in die bürgerliche Mitte. Wie holt sich die Wirtschaft dieses Vertrauen zurück?
Das KMU im Dorf kennt man noch immer, bei den Grossfirmen ist es anders. Vieles ist anonymer geworden, die CEOs kommen aus dem Ausland. Ein Hauptproblem sind die zum Teil überrissenen Saläre. Ein wichtiger Schritt wäre, die Managerlöhne zu kürzen.
Sie sprechen von einem Reförmchen. Weshalb reden Sie die Bedeutung der Reform klein?
Radio SRF hat berichtet, die ganze Verrechnungssteuer werde abgeschafft und es gehe um Milliardenbeträge. Das ist schlicht falsch. Diesen Eindruck wollte ich mit dem Begriff Reförmchen korrigieren. In der Vorlage geht es um fünf Prozent der gesamten Verrechnungssteuereinnahmen. Sie wäre eine wichtige Verbesserung für den Wirtschaftsstandort Schweiz. Es geht aber nicht um Sein oder Nichtsein.
Die Gegner rechnen mit Steuerausfällen von 500 bis 800 Millionen Franken jährlich. Das ist ein grosser Betrag.
Wir rechnen mit Steuerausfällen von 215 bis 275 Millionen Franken ...
... bei einem Zinssatz von 1.5 Prozent. Doch die Zinsen sind am Steigen, das macht die Reform teurer.
Wenn die Zinssätze steigen, dann geht es bei der zurückbehaltenen Verrechnungssteuer um mehr Geld als im jetzigen Tiefzinsumfeld. Die Ausgabe von inländischen Obligationen in der Schweiz wird ohne Reform noch unattraktiver und es werden noch mehr Geschäfte im Ausland abgewickelt, weil man den hohen Zinsen und Verrechnungssteuern ausweichen will. Deshalb ist es wichtig, dass man das Geschäft zurückholt.
Im Abstimmungsbüchlein schreibt der Bundesrat, im günstigsten Fall rechne sich die Reform bereits im Jahr des Inkrafttretens. Auf was stützt sich diese optimistische Annahme?
Die Verrechnungssteuer wird nur auf Zinsen von neu emittierten Obligationen abgeschafft. Das heisst, die bestehenden Anleihen sind nicht tangiert. Und das bedeutet wiederum, dass die Ausfälle zu Beginn nur gering sind. Ich bin relativ optimistisch, weil ich selbst mit den grossen Firmen geredet habe. Alle haben mir bestätigt, dass sie ihre Obligationen künftig wieder in der Schweiz herausgeben, wenn das Hindernis der Verrechnungssteuer weg ist.
Sie stützen sich also auf eigene Gespräche mit Firmen und nicht nur auf Verbandsumfragen?
Ja. Und diese Firmen kommen zurück und geben ihre Obligationen lieber in der Schweiz aus, als im Ausland. Das ist für sie einfacher und günstiger. Sie stärken damit auch die Swissness. Der Herausgabe von Anleihen in Luxemburg ist für eine Schweizer Firma nicht gerade imagefördernd. Auch die öffentliche Hand spart mit der Vorlage, weil das Zinsniveau etwas gedrückt wird.
Die Ausfälle werden im Laufe der Zeit grösser.
Die Frage ist doch, was passiert, wenn wir die Reform nicht machen: Dann haben wir mit Bestimmtheit mehr Steuerausfälle. In den letzten zwölf Jahren sind bereits 60 Prozent des Obligationenvolumens ins Ausland abgewandert. Unser Fremdkapitalmarkt ist im Vergleich zu Luxemburg stark unterentwickelt. Die Verrechnungssteuer ist ein Hemmschuh!
Luxemburg hat sich etabliert als Standort für Konzernfinanzierungen. Ist es so einfach, den Luxemburgern das Geschäft abzuzügeln?
Luxemburg ist noch etwas kleiner und die Wege zwischen den Unternehmen und der Verwaltung sind kürzer. Aber rein vom Know-how her und der Qualität des Finanzplatzes sind wir mindestens ebenbürtig. Es ist eine reelle Annahme, dass sehr viel des Geschäfts in die Schweiz zurückkommt. Der starke Franken im Vergleich zum kriselnden Euro wird diese Entwicklung noch verstärken.
Dafür nehmen Sie in Kauf, dass die Steuerhinterziehung zunimmt. Fällt die Verrechnungssteuer auf Obligationenzinsen weg, steigt der Anreiz, um Steuern zu hinterziehen.
Das bestreite ich. Rein theoretisch mag das stimmen. Aber wer kauft Schweizer Obligationen? Das sind hauptsächlich ausländische, institutionelle Anleger. Wir haben mit dem Ausland den Automatischen Informationsaustausch (AIA), der Steuerhinterziehung verhindert. Diese Gefahr wird mit Sicherheit nicht grösser.
Das Problem liegt im Inland. Wer Steuern hinterziehen will, kauft künftig Schweizer Obligationen statt Aktien. Denn die Verrechnungssteuer auf Dividenden gibt es weiterhin, aber nicht mehr auf dem Obligationenzins.
Das ist schon wieder sehr theoretisch. Man muss ja nicht nur die Einkünfte verschleiern, sondern auch die Anlage selbst. Und man läuft Gefahr, irgendwann aufzufliegen. So einfach ist es nicht. Kommt dazu, wer Steuern hinterziehen will, kauft heute ausländische Obligationen. Auf diesen Zinsen gibt es nämlich keine Verrechnungssteuer. Wer hinterziehen will, findet einen Weg. Bei den aktuell tiefen Zinsen ist es aber ohnehin nicht sonderlich interessant.
Aber die Zinsen steigen wieder!
Die Versuchung wird vielleicht grösser. Doch der Staat geht von ehrlichen Steuerzahlern aus. Die SP spricht von Steuerausfällen von 500 bis 800 Millionen Franken. Sie rechnet mit Zinsen von drei bis vier Prozent und damit, dass niemand mehr die Zinsen auf Obligationen in der Steuererklärung angibt. Das ist eine bösartige Unterstellung!
Die SP argumentiert vor allem, dass wir ausländischen Investoren ein Steuergeschenk machen.
Wir haben mit über 100 Ländern den automatischen Informationsaustausch! Es braucht also die Verrechnungssteuer nicht mehr.
Mit vielen Ländern haben wir keinen AIA. Nehmen Sie Belarus. Sollen wir deren Oligarchen Steuergeschenke machen?
Ich glaube ehrlich gesagt nicht, dass weissrussische Oligarchen Schweizer Obligationen kaufen.
2015 wollte der Bundesrat die Verrechnungssteuer noch auf ausländische Obligationen ausweiten, um die Steuerhinterziehung einzudämmen. In der Vorlage, wie sie nun an die Urne kommt, wird der Anreiz zur Steuerhinterziehung nun sogar erhöht.
Die Situation hat sich seither grundlegend verändert: Wir haben den automatischen Informationsaustausch eingeführt. Der AIA hat viele versteckte Vermögen an die Oberfläche gebracht. Wir erhalten jährlich fast drei Millionen Meldungen aus dem Ausland. Ein wichtiger Effekt des AIA ist auch, dass die Leute vorsichtiger werden.
Das spricht doch dafür, die Verrechnungssteuer auf Obligationenzinsen abzuschaffen und dafür ein Meldesystem im Inland einzuführen. Wie es die Linke fordert.
Ein Meldesystem bedeutet die Abschaffung des Bankgeheimnisses im Inland. Das ist in der Schweiz nicht mehrheitsfähig.
Das wissen wir nicht. Die Initiative, die das Bankgeheimnis in der Verfassung verankern wollte, kam nie zur Abstimmung.
Aus Sicht des Bundesrates kommt dem steuerlichen Bankgeheimnis im Inland weiterhin eine hohe Bedeutung zu. Die Prüfung einer Teil-Meldevorlage wurde mit Ausnahme einer Partei von allen abgelehnt. Das Bankgeheimnis hat eine staatspolitische Dimension. Es ist eine vornehme Aufgabe des Staates, die Privatsphäre seiner Bürger zu schützen.
Weshalb braucht es die Verrechnungssteuer auf dem Bankkonto noch, wenn wir alle so steuerehrlich sind?
Dort besteht der Sicherungszweck nach wie vor und es gibt keine administrativen Hürden. Im Unterschied zu den Zinsen auf Obligationen: Für ausländische Institutionen und Investoren ist die Rückforderung der Verrechnungssteuer mit erheblichem Aufwand verbunden.
Die Verrechnungssteuerreform kann man nur machen, weil der AIA eingeführt wurde. Ist dieser also positiv?
Wir hatten keine Wahl. Die Schweiz musste mitmachen.
Der Fiskus profitiert davon.
Ja. Er profitiert insofern, weil jene, die Geld am Staat vorbeischmuggeln wollten, transparent werden.
Also eigentlich eine gute Sache.
Unter dem Strich, ja. Mit allen Gefahren, die es auch gibt.
Ein Argument für die Reform ist, dass sie Arbeitsplätze schafft. Brauchen wir diese in Zeiten von Fachkräftemangel überhaupt?
Natürlich. Arbeitsplätze sind nicht einfach ein Geschenk, wir müssen jedem einzelnen Sorge tragen.
Damit wird doch einfach die Migration angekurbelt.
Der Finanzplatz hat seit der Finanzkrise fast 20000 Arbeitnehmende verloren. Wir dürfen nicht noch mehr verlieren. Und überhaupt: Alle, die bei uns arbeiten wollen, waren immer herzlich willkommen, egal woher sie kommen. Auch von unserer Partei her. Problematisch ist die Einwanderung ins Sozialsystem.
Der Finanzhaushalt sieht kritisch aus, gleichzeitig gibt es mehrere Steuerprojekte, bei denen Ausfälle drohen: Abschaffung des Eigenmietwerts, Individualbesteuerung, Tonnage Tax… Was hat für Sie Priorität?
Diese Frage müssten Sie eigentlich dem Parlament stellen. All diese Vorlagen kommen von dort, der Bundesrat wehrt sich dagegen. Das Parlament hat völlig die Pedale verloren! Die nationalrätliche Kommission hat bei der Abschaffung des Eigenmietwerts eine Vorlage erarbeitet, die fast 4 Milliarden Steuerausfälle verursacht.
Sie sagen, das Parlament habe das Mass verloren?
Ja, im Moment völlig.
Weil Corona gezeigt hat, dass der Staat alles finanzieren kann, wenn er nur will?
Das hat vermutlich einen Einfluss. In den letzten zwei Sessionen wurden sehr viele zusätzliche Ausgaben beschlossen: Prämienverbilligungen, Armee, Gegenvorschlag zur Gletscherinitiative – um nur einige zu nennen. Inzwischen haben wir einen Bereinigungsbedarf im Jahr 2024 von 3 bis 5 Milliarden, wenn alle Vorhaben wie geplant kommen. 2025 sind es 5 bis 7 Milliarden. Stellen Sie sich mal das Sparprogramm vor!
Das heisst, wir müssen uns auf Sparprogramme einstellen?
Steuererhöhungen oder Sparprogramme, ja. Oder auf Ausgaben verzichten.
Was ist Ihre Präferenz?
Der Bundesrat hat es noch nicht diskutiert. Grundsätzlich ist klar: Entweder man gibt weniger aus oder man nimmt mehr ein. Eine Steuererhöhung würde ich ausschliessen.
Wieso?
Der Staat muss schlank bleiben. Alles Geld, das er den Bürgern und Bürgerinnen oder Unternehmungen wegnimmt, fehlt für den Konsum und schränkt die Wirtschaft ein. Zudem können wir auch eine Rezession nicht ausschliessen. Da sollten wir den Leuten nicht mehr Geld abknöpfen.
Aber sparen wird auch schwierig.
Ja, das ist so. Wir hatten jetzt 15 Jahre lang ein Wirtschaftswachstum wie nie zuvor. Nun müssen wir mit Einbussen rechnen. Wir werden das Ende Jahr erleben: Ich glaube nicht, dass die Arbeitgeber die Teuerung voll ausgleichen können. Zudem haben wir bei den Krankenkassen einen Fehler gemacht: Wir haben ihnen gesagt, sie sollen die Reserven abbauen, nun steigen nächstes Jahr die Prämien stark, bis zu 10 Prozent. Den Leuten wird es nächstes Jahr nicht mehr gleich gut gehen.
Hätten Sie eigentlich Lust, das Energiedossier zu übernehmen? Ihre Partei sähe Sie gerne an der Spitze des UVEK, anstelle von Simonetta Sommaruga.
Ich spekuliere eigentlich eher aufs Aussendepartement (lacht).
Weshalb?
Da könnte ich reisen gehen (lacht). Mich würde jede Aufgabe beim Bund reizen, aber ich habe noch einige Projekte, die ich fertigmachen möchte. Nachher kann man dann darüber reden, ob UVEK oder EDA (lacht). (aargauerzeitung.ch)
Trickle-down.funktioniert.nicht! Hoffen wir dass die junge Generation das endlich einsieht und diesen Zombie der Vergangenheit beerdigt.