Brüssel hat klargemacht: Eine einseitige «Schutzklausel» mit dem Ziel, den freien Personenverkehr zwischen der Schweiz und der EU markant einzuschränken, wird es nicht geben. Die EU-Kommission könne und werde den Wunsch der Schweiz in den Verhandlungen nicht akzeptieren, hielten EU-Beamte gegenüber den EU-Mitgliedstaaten vergangene Woche fest. Diese unterstützen die EU-Kommission in ihrer harten Haltung und stärken ihr den Rücken.
Neben dem Argument, dass die Freizügigkeit eines der Grundprinzipien der EU sei, hört man in Brüssel vor allem, dass die Schweiz heute schon viele – in manchen Augen zu viele – Extrawürste habe.
Tatsächlich verfügt das EU-Nichtmitglied Schweiz über verschiedene Ausnahmen und Schutzmassnahmen bei der Freizügigkeit, welche EU-Staaten selbst nicht zustehen. Ihr Zweck ist es, wie bei der «Schutzklausel», Negativfolgen der Zuwanderung abzufedern. Zum Teil gibt es die Ausnahmen heute schon. Zum Teil wurden sie von der Schweizer Seite in den monatelangen Sondierungsgesprächen der EU abgerungen und sollen nun in den neuen bilateralen Abkommen abgesichert werden. Die in letzter Zeit in den Fokus gerückte «Zuwanderungs-Notbremse» ist insofern nur ein Element in einem ganzen Geflecht von Schutzklauseln.
Um eine Zuwanderung in den gut ausgebauten Schweizer Sozialstaat zu verhindern, hat die EU der Schweiz im «Gemeinsamen Verständnis», dem verschriftlichen Resultat der Sondierungsgespräche, mehrere Absicherungen garantiert. Die wichtigste: Die Freizügigkeit wird sich im Wesentlichen weiter auf den Arbeitsmarkt oder Personen beschränken, die genügend Mittel für ihren Lebensunterhalt verfügen.
Kommt jemand ohne Job in die Schweiz, soll er kein Recht auf Sozialleistungen haben. Zudem soll die Schweiz arbeitslosen EU-Bürgern die Aufenthaltsbewilligung entziehen können, sofern sie nicht mit dem Arbeitsamt kooperieren und sich um eine neue Beschäftigung bemühen. Die entsprechenden Teile der sogenannten «Unionsbürgerrichtlinie», die EU-Bürgerinnen und Bürgern weitergehende Rechte zugesteht, sollen in der Schweiz nicht gelten.
In der EU gilt Niederlassungsfreiheit, und es ist nicht so leicht, auch einen kriminellen Unionsbürger des Landes zu verweisen. In den Sondierungsgesprächen hat die EU der Schweiz nun aber ausdrücklich eine Ausnahme zugestanden, was die Schweizer Ausschaffungspraxis erlaubt.
Die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) soll hier explizit nicht zur Anwendung kommen. Die Schweizer Verfassung mit dem Artikel 121 zur im Jahr 2010 angenommenen Ausschaffungsinitiave könnte gewahrt werden.
EU-Bürgerinnen und -Bürger sollen erst ein Daueraufenthaltsrecht erhalten, wenn sie fünf Jahre lang legal in der Schweiz als Erwerbstätige gelebt haben, mit Betonung auf erwerbstätig.
Wenn jemand eine gewisse Zeit von Sozialleistungen abhängig ist, kann die Schweiz die Frist für den Erwerb des Daueraufenthalts auch unterbrechen. Ohne dauerhafte Niederlassungsbewilligung greift logischerweise wiederum die oben erwähnte Schutzklausel gegen Zuwanderung ins Sozialsystem.
Lange Zeit drehte sich die Freizügigkeitsdebatte in der Schweiz vor allem um EU-Arbeitnehmende, die kurzfristig für einen Auftrag in die Schweiz reisen, sogenannte «Entsendete». Die Gewerkschaften befürchten Lohn-Dumping und Billig-Konkurrenz. Deshalb gibt es die sogenannten «Flankierenden Massnahmen» (FlaM). Sie sind spezifische Ausnahmen, die die EU der Schweiz vom europäischen Entsenderecht zugestanden hat – und sie auch künftig zugestehen würde.
Im «Gemeinsamen Verständnis» sind sie schwarz auf weiss aufgezählt. Dazu gehören eine viertägige Voranmeldefrist, eigenständige Baustellen-Kontrollen durch die Sozialpartner, eine Kautionspflicht für Regelbrecher sowie eine Dokumentationspflicht für Selbstständige. Zudem gibt Brüssel in der sogenannten «Nichtregressionsklausel» die Garantie ab, dass die Schweiz keine künftigen EU-Regeln übernehmen muss, die den Schutz der hiesigen Arbeitnehmer absenken könnten.
Im existierenden Freizügigkeitsabkommen von 1999 gibt es unter Artikel 14.2 eine allgemeine Schutzklausel. Sie besagt, dass bei «schwerwiegenden wirtschaftlichen oder sozialen Problemen» die Schweiz in Brüssel vorstellig werden kann. Im sogenannten Gemischten Ausschuss würden dann «geeignete Abhilfemassnahmen» diskutiert. Die Klausel hat den Nachteil, dass sie sehr vage formuliert ist.
Was heisst das, schwerwiegende Probleme? Zudem entscheidet der «Gemischte Ausschuss» nur im Konsens. Die Schweiz versucht in den Verhandlungen deshalb, die Klausel griffig zu machen. Auch wenn es keine harte «Zuwanderungs-Notbremse» werden wird, wie es die Schweizer Politik fordert – gut möglich, dass hier noch etwas rauszuholen ist. Der Punkt ist aber auch: Die Klausel existiert schon jetzt. Nur wurde sie von der Schweiz noch nie angerufen.
Abschliessend gilt es festzuhalten, dass die Wirkung der einzelnen «Schutzklauseln» immer auch davon abhängt, wie sie ins Schweizer Recht überführt und konkret angewendet werden. Bei der Ausgestaltung des Schweizer Entsendegesetzes oder des Ausländergesetzes und der dazugehörenden Verordnung hat das Parlament durchaus Manövrierraum. (aargauerzeitung.ch)
Meine bisherigen Haupteinwände sind damit jedenfalls entkräftet.