Ein Phantom geistert durch das Verhältnis zwischen der Schweiz und der Europäischen Union. Es nennt sich Schutzklausel und soll der Schweiz eine Art Notbremse im Fall einer untragbaren Zuwanderung aus der EU ermöglichen. Sie war zwischenzeitlich abgeflaut und hat zuletzt wieder angezogen. Allein 2023 kamen netto knapp 100’000 Menschen.
Das hinterlässt Spuren, nicht zuletzt auf dem Wohnungsmarkt. Die SVP hat darauf mit ihrer Volksinitiative «Keine 10-Millionen-Schweiz» reagiert, mit der sie einmal mehr versucht, die verhasste Personenfreizügigkeit zu torpedieren. Gleichzeitig verhandelt Bern mit Brüssel über ein umfassendes, manchmal als Bilaterale III bezeichnetes Vertragspaket.
Um die SVP auszubremsen und das Abkommen zu «retten», verlangen bürgerliche Kreise in letzter Zeit vermehrt eine Schutzklausel bei der Zuwanderung. FDP-Präsident Thierry Burkart ist dafür, und Mitte-Präsident Gerhard Pfister propagiert sogar einen Mechanismus, den die Schweiz auch einseitig aktivieren könnte, ohne Zustimmung der EU.
Nun mischt sich auch der frühere Spitzendiplomat und ETH-Professor Michael Ambühl in die Debatte ein. Er hat zusammen mit den Mitautorinnen Nora Meier und Daniela Scherer am Montag auf weblaw.ch ein eigenes Modell für eine Schutzklausel veröffentlicht. Es wurde von NZZ und Tamedia aufgegriffen, denn Ambühl hat Erfahrung mit dieser Materie.
Nach der Annahme der Masseneinwanderungsinitiative der SVP vor zehn Jahren hatte der Bundesrat versucht, der EU eine Schutzklausel bei der Zuwanderung schmackhaft zu machen. Auch damals hatte Michael Ambühl eigene Vorschläge eingebracht. Genützt hatte es nichts. Brüssel weigerte sich kategorisch, über die Personenfreizügigkeit zu verhandeln.
Die EU war einzig bereit, über einen schon bestehenden Mechanismus zu reden. Wenn die Zuwanderung zu «schwerwiegenden wirtschaftlichen oder sozialen Problemen» führt, dürfen demnach «geeignete Massnahmen» ergriffen werden, jedoch nur in Absprache. Am Ende setzte die Schweiz die SVP-Initiative sehr rudimentär um, mit dem «Inländervorrang light».
Nun schlagen Ambühl und seine Mitautorinnen eine Art dreistufige Schutzklausel vor. Sie soll erst bei einem in den Verhandlungen definierten Schwellenwert aktiviert werden und auch für jedes EU-Land gelten. Ist er überschritten, treten erst einmal «weiche» Massnahmen in Kraft, etwa eine Ausweitung des Inländervorrangs oder eine Zuwanderungsabgabe.
Falls dies nicht ausreicht, werden Kontingente aktiviert, wobei Ambühl und Co. sogleich einräumen, dass dies zu Verteilkämpfen zwischen Branchen und Regionen führen dürfte. Denn die EU-Zuwanderung ist durch den Arbeitsmarkt getrieben. Im dritten Schritte müsste die Umsetzung bestimmt werden, was nach Ansicht der NZZ «alles andere als trivial» sei.
Die Autoren räumen ein, dass ihr Konzept an die Quadratur des Kreises erinnert und «nur näherungsweise gelingen» könne. Eigentlich würden sich ein freier Personenverkehr und dessen Steuerung gegenseitig ausschliessen. Gleichzeitig seien auch andere Länder vom Problem betroffen: die Niederlande, das EWR-Mitglied Norwegen und Österreich.
Die mit Abstand grösste Zuwanderung im Verhältnis zur Gesamtbevölkerung aber hat Luxemburg. Das Grossherzogtum hat sich als Finanzplatz sowie Standort für globale Konzerne und EU-Institutionen etabliert, wodurch sich die Einwohnerschaft in den letzten 30 Jahren glatt verdoppelte, auf 650’000 Menschen. Ohne Ausländer würde nichts gehen.
Die Schweiz ist mit dem Problem also keineswegs allein. Besonders in den Niederlanden findet eine intensive Debatte darüber statt, wie viel Wachstum sie vertragen. Hinzu kommt, dass wegen der Demografie überall die Fachkräfte knapp werden. Die Schweiz mit ihren hohen Löhnen ist für diese ein Magnet, zum wachsenden Unmut unserer Nachbarn.
So klagte Frédéric Journès, der damalige französische Botschafter in Bern, vor zwei Jahren im Tamedia-Interview, der Fachkräftemangel in den Grenzregionen zur Schweiz verschärfe sich massiv. Besonders betroffen sei das Gesundheitswesen. Italien verlangt von seinen Grenzgängern seit Anfang Jahr deutlich mehr Steuern, zum Ärger der Tessiner Wirtschaft.
Eine Schutzklausel könnte für diese Länder interessant werden, wenn sie nicht nur die Zuwanderung betrifft, sondern auch Massnahmen gegen eine zu starke Abwanderung enthält. Ob die von der Schweiz oft als dogmatisch empfundene EU-Kommission sich darauf einlässt, ist zweifelhaft. Sie betrachtet die Personenfreizügigkeit als eisernes Grundprinzip.
Offen ist auch, ob Deutschland als grösstes EU-Land mitmachen würde. Es «verliert» so viele Fachkräfte an die Schweiz wie kein anderes Land, bedient sich aber seinerseits ausgiebig bei den Osteuropäern. Diese beklagen sich über den «Aderlass». Dies zeigt, dass der freie Personenverkehr auch EU-intern zunehmend kritisch betrachtet wird.
Die EU sei «nicht mehr so stur, wie wir oft meinen», sagte Gerhard Pfister im NZZ-Interview. Wenn es aber zu einer Schutzklausel kommt, die nicht nur gegen die Zu-, sondern auch die Abwanderung aktiviert werden kann, könnte für die Schweiz die chinesische Redensart gelten: «Hütet euch vor dem, was ihr euch wünscht. Es könnte in Erfüllung gehen.»
Ist auch in der CH nicht anders.