Schweiz
Sport

Magglingen-Protokolle: Wie Schweizer Turnerinnen gebrochen werden

Der Schweizerin Ariella Kaeslin am Stufenbarren, beim Kunstturn-Wettbewerb "Swiss Cup" im Zuercher Hallenstadion am Sonntag, 31. Oktober 2010. (KEYSTONE/Steffen Schmidt)
Ariella Kaeslin ist eine von acht Athletinnen, die ihre schrecklichen Erlebnisse schildert.Bild: KEYSTONE

Die Magglingen-Protokolle: Wie Turnerinnen gedemütigt werden

In den Magglingen-Protokollen schildern ehemalige Spitzenturnerinnen, wie sie gedemütigt wurden. Auch der aktuelle Nationaltrainer Fabien Martin wird beschuldigt.
01.11.2020, 22:2602.11.2020, 09:58
Raphael Gutzwiller / ch media
Mehr «Schweiz»

«Magglingen verändert dich. Ich hatte keine Gefühle mehr. Ich habe vom Kopf an abwärts nichts mehr gespürt. Ich musste wieder lernen, zu verstehen, dass ich Hunger habe. Oder dass ich aufhören muss, wenn etwas wehtut.» Lisa Rusconi erinnert sich mit Schrecken an ihre Zeit im nationalen Leistungszentrum in Magglingen.

ARCHIV - ZUM TAGESGESCHAEFT AM MONTAG 10. SEPTEMBER 2018 DER HERBSTSSESSION 2018 STELLEN WIR IHNEN FOLGENDES THEMENBILD ZUR VERFUEGUNG - Die Eidgenoessische Hochschule fuer Sport Magglingen (EHSM) am  ...
Die Eidgenössische Hochschule für Sport Magglingen (EHSM) im Jahr 2012.Bild: KEYSTONE

Wie schlimm das Klima beim Schweizerischen Turnverband (STV) ist, zeigen die «Magglingen Protokolle» im «Magazin». Darin berichten acht ehemalige Spitzenturnerinnen der Disziplinen Kunstturnen und rhythmische Gymnastik von schweren Verfehlungen, physischen und verbalen Übergriffen. Von Angstmacherei, Depressionen und Essstörungen.

«Abends kam ich mit weissen, ausgetrockneten Lippen zur Gastfamilie.»
Lisa Rusconi

Dass beim STV in Sachen Umgang mit Athletinnen einiges im Argen liegt, wurde im Dezember 2019 zum ersten Mal in dieser Zeitung thematisiert. Auch im Fall einer mutmasslich sexuell missbrauchten Kunstturnerin am Regionalen Leistungszentrum Ostschweiz macht der STV seit Mitte 2019 keine gute Figur, wie Recherchen von CH Media zeigen.

In diesem Sommer äusserten sich ehemalige Athletinnen im «Blick», im «Le Temps», in der «NZZ am Sonntag» und im Westschweizer Fernsehen RTS. Im «Magazin» schildern die Athletinnen nun, wie sie gedemütigt wurden.

Turnerinnen müssen Kinder bleiben

Bei der Thematik handelt es sich auch um ein systematisches Problem. Kunstturnen und rhythmische Gymnastik sind Kindersportarten. Anders als in den meisten Sportarten sind die Athletinnen nicht dann am leistungsfähigsten, wenn sie erwachsen sind. Sie sind dann am beweglichsten, wenn ihr Körper dem eines Mädchens ähnelt.

«Als Turnerin denkst du: Wenn ich mir das Leben nehme, dann ist nicht nur alles endlich vorbei, du denkst auch: So kann ich dem Trainer eins auswischen.»
Ariella Kaeslin

Überehrgeizige Trainer drängen Athletinnen zum Hungern, damit sich der Körper in der Pubertät nicht verändert. Die Athletinnen essen am Abend ein halbes Joghurt, am Mittag ein paar Blätter Salat. Lisa Rusconi erzählt: «Es kam vor, dass ich im Training ohnmächtig wurde. Ich fiel zusammen, kippte um. Wir durften selten etwas trinken während des Trainings. Abends kam ich mit weissen, ausgetrockneten Lippen zur Gastfamilie.»

Der Verlust des Selbstwertgefühls

Für Erfolge im Spitzensport müssen Athleten immer viel unterordnen. Im Fall der Turnerinnen aber wurde dies übertrieben. Marine Périchon erzählt:

«Im Trainingslager wusste ich nicht mehr, ob es Tag oder Nacht ist, solange behielt man uns in der Halle. Mit der Zeit verlor ich die Verbindung zu meinem Körper. Ich spürte ihn nicht mehr, spürte mich nicht. Ich wurde ein Roboter, der keinen Schmerz empfand. Wir durften nichts essen, nichts trinken. Als ich vor Erschöpfung zusammenklappte, zeigte Vesela (Vesela Dimitrova, bis 2013 Nationaltrainerin in der rhythmischen Gymnastik) auf einen leeren Plastiksack: ‹Schau, Marine, das bist du. Du bist nichts.› Ich glaubte ihr. Ich war schon so kaputt, dass ich dachte: Ja, sie hat recht. Das bin ich. Ich bin ein Nichts. Dann riss sie den Sack in zwei Teile.»

Aktuelle Vorwürfe gegen Nationaltrainer Fabien Martin

Nicht nur in der Vergangenheit scheinen die ungemeinen Umgangsformen im Magglingen Realität gewesen zu sein, auch über aktuelle Entscheidungsträger werden Vorwürfe erhoben. Lynn Genhart und Fabienne Studer kritisieren den aktuellen Kunstturnnationaltrainer Fabien Martin, dessen Vertrag vom STV vor kurzem bis 2024 verlängert wurde.

Laut Studer habe Martin ihr von Anfang an mit dem Rausschmiss gedroht. Dies sei Teil der Angstkultur, die in Magglingen herrsche. Und Genhart sagte: «Fabien hatte verschiedene Strategien, uns fertigzumachen.» Eine davon seien Kommentare zum Essverhalten und zum Körpergewicht gewesen.

Die Schweizer Turnerin Ariella Kaeslin, links, nach dem Bodenturnen, zusammen mit ihrem Trainer Fabien Martin, am Freitag, 7. September 2007, anlaesslich des Mehrkampf Finals, am Freitag, 7. September ...
Die Schweizer Turnerin Ariella Kaeslin, links, nach dem Bodenturnen, zusammen mit dem heute stark kritisierten Trainer Fabien Martin 2007.Bild: KEYSTONE

Im Sommer hat der STV aufgrund des öffentlichen Drucks die Gymnastik-Nationaltrainerin Iliana Dineva entlassen. Zudem wurde der Spitzensportchef Felix Stingelin bis auf weiteres suspendiert. Der Verband ordnete eine externe Untersuchung an. Öffentlich dazu Stellung nimmt er derweil nicht. Swiss Olympic und das Bundesamt für Sport schieben die Verantwortung an den STV ab.

Verändert sich etwas?

Die Frage, ob sich dauerhaft etwas verändert, bleibt berechtigt. In den vergangen zwei Jahrzehnten entliess der STV viermal Trainerinnen oder Trainer. 2002 Olga Bullert, Nationaltrainerin in der Rhythmsichen Gymnastik, 2007 Eric Demay, Nationaltrainer im Frauenkunstturnen, 2013 Heike Netzschitz und Vesela Dimitrova, Nationaltrainerinnen in der Rhythmischen Gymnastik und 2020 schliesslich Iliana Dineva und Aneliya Stancheva, Nationaltrainnerinnen in der Rhytmischen Gymnastik. Verändert hat sich durch die vielen Entlassungen nichts.

Was muss nun geschehen, dass sich etwas tut? Mit dieser Frage muss sich der STV spätestens nach diesem nächsten öffentlichen Aufschrei ausführlich und grundlegend befassen.

Die Athletinnen litten nach den Misshandlungen unter Angst- und Essstörungen, an Depressionen und posttraumatischen Belastungsstörungen. Ariella Kaeslin sagt: «Als Turnerin denkst du: Wenn ich mir das Leben nehme, dann ist nicht nur alles endlich vorbei, du denkst auch: So kann ich dem Trainer eins auswischen.»

DANKE FÜR DIE ♥
Würdest du gerne watson und unseren Journalismus unterstützen? Mehr erfahren
(Du wirst umgeleitet, um die Zahlung abzuschliessen.)
5 CHF
15 CHF
25 CHF
Anderer
twint icon
Oder unterstütze uns per Banküberweisung.
Arzt der US-Turnerinnen zu 175 Jahren Haft verurteilt
Video: watson
Das könnte dich auch noch interessieren:
51 Kommentare
Weil wir die Kommentar-Debatten weiterhin persönlich moderieren möchten, sehen wir uns gezwungen, die Kommentarfunktion 24 Stunden nach Publikation einer Story zu schliessen. Vielen Dank für dein Verständnis!
Die beliebtesten Kommentare
avatar
olmabrotwurschtmitbürli #wurstkäseszenario
01.11.2020 23:00registriert Juni 2017
Das ist unheimlich traurig. Hoffentlich finden diese unheimlich tollen Menschen ihr Selbstvertrauen rasch wieder.

Und die Kriterien von Kindersportarten als Profisport gehören gründlich überdacht.
48411
Melden
Zum Kommentar
avatar
Maya Eldorado
01.11.2020 22:57registriert Januar 2014
Schrecklich! Spitzensport allgemein ist weitgehend fragwürdig.
41060
Melden
Zum Kommentar
avatar
Saul_Goodman
02.11.2020 03:26registriert Dezember 2015
Eine schon etwas in die jahre gekommene sportart in der irgendwelche sinnlosen standards bis zur perfektion geübt werden (z.b. landen ohne abfedern, schritte zu machen oder in die knie zu gehen, ungesünder gehts ja kaum...) wundert mich jetzt gar nicht gross dass hier der mensch noch mehr als bei anderen sportarten als verbrauchsmaterial angesehen wird.
Man siehts den meist misslaunigen trainern ja schon vom weiten an dass hier disziplin über allem steht.Dass hier kulturen wie russland/china vorne mitmischen prägt dann wohl auch den sport und die ansichten über erfolgreiche trainingsmethoden
18311
Melden
Zum Kommentar
51
Von 1 bis 16 Franken pro 100 Gramm – so krass variieren die Osterhasen-Preise
Fast drei Osterhasen verputzen Herr und Frau Schweizer im Durchschnitt pro Jahr. Wie viel sie dafür berappen, variiert gewaltig. Denn der Luxus-Osterhase vom Chocolatier ist fast 16 Mal teurer als die Billigstvariante aus dem Discounter.

Auch in diesem Jahr werden an Ostern wieder haufenweise Osterhasen aus Schokolade verdrückt. Nach Schätzungen von Chocosuisse, dem Verband der Schweizer Schokoladenfabrikanten, werden in der Schweiz pro Jahr allein für den Inlandmarkt rund 20 Millionen Osterhasen produziert – das sind fast drei Osterhasen pro Kopf. Rund 7 Prozent des jährlichen Schokoladenabsatzes in der Schweiz gehen auf das Konto der Osterfeiertage.

Zur Story