Seit Kriegsbeginn sind bereits knapp 14'000 Flüchtende aus der Ukraine in den Bundesasylzentren registriert worden. Über die Hälfte von ihnen hat schon den Schutzstatus S erhalten. Doch das ist erst der Anfang. Bundesrätin Karin Keller-Sutter sagte diese Woche, dass bis im Juni rund 50'000 Menschen in die Schweiz kommen könnten.
Die Kantone gehen mit ihrer Prognose noch weiter. Bis Ende Jahr rechnen sie mit bis zu 300'000 Menschen, wie die «NZZ am Sonntag» berichtet. Zum Vergleich: Während des Höhepunkts der Flüchtlingskrise 2015 stellten knapp 40'000 Menschen ein Asylgesuch.
Die Kantone müssten sich auf diese Situation einstellen, sagt der Präsident der kantonalen Migrationsbehörden Marcel Suter. Doch was heisst das genau? Eine Übersicht.
Der erste Anlaufpunkt für die Flüchtenden sind oftmals die Asylzentren. Ungefähr gleich viele Menschen hätten sich während des letzten Monats bei einem der Bundesasylzentren registriert, wie sonst in einem ganzen Jahr, sagt Bundesrätin Karin Keller-Suter. «Wir müssen uns darauf einstellen, dass noch viele kommen», so die Justizministerin. Am Donnerstag hat sie zusammen mit Staatssekretärin Christine Schraner Burgener das Bundesasylzentrum in Basel besucht.
Aktuell können die Zentren den Andrang stemmen. Kommen die Flüchtlinge an, müssen sie sich zuerst in einem Asylzentrum melden und registrieren. Wenn sie den Schutzstatus S erhalten haben, werden sie auf die Kantone verteilt.
Dabei ist die Regierung bei der Unterbringung auch auf die Unterstützung der Zivilbevölkerung angewiesen: «Wir sind froh, können wir momentan auf private Unterkünfte zurückgreifen», sagt Keller-Sutter. Eine langfristige Lösung sei das aber nicht. Die Privaten würden die Flüchtlinge nur vorübergehend, für drei Monate, aufnehmen.
«Bis jetzt ist ein Viertel der ukrainischen Flüchtlinge mit Status S bei Privaten untergebracht», ergänzt Schraner Burgener. Ausserdem kämen viele bei Freunden oder Bekannten unter. «Falls die Asylzentren voll sind, können wir auf Militärunterkünfte ausweichen», so die Staatssekretärin. Aktuell würden die Kasernen in Bure und Bülach genutzt.
Ein finaler Plan ist das noch nicht. Momentan werde laufend weitergeplant, sagt Bundesrätin Keller-Sutter. Dabei sieht sie die Kantone in der Pflicht: «Der Bund hat keine leerstehenden Hotels oder Altersheime, wo man Flüchtlinge unterbringen könnte.»
Die 300'000 erwarteten Geflüchteten werfen auch abseits des Asylprozesses grosse soziale Fragen auf. Eine gewisse Entschärfung des Problems brachte die Einführung des «Schutzstatus S» für Ukrainerinnen und Ukrainer bereits: Er lockert die bürokratischen Hürden und ermöglicht den Geflüchteten sofort, eine Arbeit zu suchen, sich dabei vom RAV helfen zu lassen und Unterstützungen für Mietkosten, Krankenkassenprämien und Betreuungskosten beantragen zu können.
Was einen möglichen Ansturm auf den Arbeitsmarkt betrifft, laufen im Hintergrund bereits intensive Gespräche: Justizministerin Karin Keller-Sutter diskutiert derzeit mit Gewerkschaften und Wirtschaftsverbänden, welche Probleme dadurch entstehen könnten.
Intern spricht man noch von einer «Problemanalyse-Phase»: Man will erst einmal untersuchen, was für Konsequenzen zehn- bis hunderttausende Arbeitssuchende bedeuten könnten. Urban Hodel, Sprecher vom Schweizerischen Gewerkschaftsbund, beschwichtigt dazu: «Tatenlos sind wir nicht. Es ist aber zu früh, irgendwelche Forderungen zu stellen.»
Hodel betont, dass es zurzeit andere Probleme gebe: Zuerst müsse dafür gesorgt werden, dass die Geflüchteten überhaupt eine Unterkunft und Betreuung erhalten. «Parallel dazu schauen wir zusammen mit den Arbeitgeberverbänden und dem Bund, welche Tatsachen dadurch geschaffen werden: Wie steht es mit den Sprachbarrieren? Wer bringt welche fachlichen Qualifikationen mit?»
Hodel warnt deshalb vor zu früher Euphorie, die zurzeit in einigen Fachbranchen herrscht. In den vergangenen Tagen berichteten Medien etwa von neugierigen IT-Unternehmen, die bereits auf ukrainische Programmiererinnen schielen.
Auch der Wirtschaftsverband Economiesuisse hofft, dass ausgebildete Geflüchtete den Schweizer Fachkräftemangel lindern könnten. Hodel relativiert dazu: «Bis jetzt sind vor allem Frauen und Kinder geflüchtet.» Zudem bestehe auch in weniger gut bezahlten Branchen Personalmangel. «Wir dürfen bei aller Euphorie Branchen wie die Gastronomie nicht aus dem Auge lassen. Behörden und Gewerkschaften werden genau hinschauen müssen, dass es faire Löhne und Arbeitsbedingungen gibt.»
Vor einer grossen Herausforderung steht das Lehrpersonal in der Schweiz. Man rechne damit, dass 40 Prozent der Flüchtenden Kinder seien, sagt Franziska Peterhans, Zentralsekretärin des Dachverbands Lehrerinnen und Lehrer Schweiz. Will heissen: Die Schweizer Schulen müssen Tausende, vielleicht sogar Zehntausende neue Schülerinnen und Schülern aus der Ukraine aufnehmen. «Es werden viele sein und sie kommen ziemlich bald», so Peterhans.
Dass Kinder ohne Sprachkenntnisse in Schweizer Schulen kämen, sei nichts Neues, sagt Peterhans, das habe man immer wieder. Ein grosses Problem sei aber der Lehrermangel. «Die Schulen laufen ohnehin schon am Anschlag und jetzt kommen noch die Kinder aus der Ukraine hinzu.» Viele dieser Kinder dürften wegen des Krieges traumatisiert sein, gibt Peterhans zu bedenken. «Die Lehrpersonen können die traumatisierten Kinder nicht speziell betreuen. Dazu fehlt ihnen die Zeit und die Ausbildung.»
Ob die Kinder direkt in die Regelklassen oder zuerst in die Integrationsklassen kommen, wird von Gemeinde zu Gemeinde anders gehandhabt. In grösseren Gemeinden gibt es vielleicht genügend Kinder, um eine eigene Integrationsklasse zu gründen, in kleineren Gemeinden dürfte dies schwieriger sein und die Kinder werden direkt in die Regelklasse geschickt. Sinnvoll seien manchmal auch Mischformen, wo die Kinder aus der Ukraine am Morgen in die Integrationsklasse und am Nachmittag in die Regelklasse gingen, sagt Peterhans.
In den Kantonen gebe es nun Anstrengungen, pensionierte Lehrpersonen zu rekrutieren, um die Engpässe zu überwinden, so Peterhans. Es sei allerdings wichtig, das Problem des Lehrermangels langfristig anzugehen. Da müsse man die Ausbildung thematisieren und sich auch fragen, weshalb so viele junge Lehrpersonen kurz nach Jobantritt dem Beruf bereits wieder den Rücken kehrten.
Die kommenden Wochen dürften für die Schweizer Schulen keine einfachen werden. «Wir dürfen nicht vergessen, dass in der Schweiz noch immer die Corona-Pandemie wütet. Wir haben momentan viele Ausfälle», so Peterhans. «Die vergangenen zwei Jahre waren eine schwere Zeit. Die Schulen haben sich von der Pandemie noch nicht erholt und jetzt kommt die nächste Herausforderung. Das wird sehr, sehr schwierig.»
Auch die Versorgung der jüngeren Kinder dürfte zu einem Problem werden. Schweizer Städte und Gemeinden müssen möglichst rasch genügend Kita-Plätze für ukrainische Flüchtlingskinder schaffen. Die Eltern wollen arbeiten und sind ihre Kinder im Vorschulalter, brauchen sie eine Betreuung.
Das ist jedoch einfacher gesagt, als getan. Nina Gilgen, Leiterin der Zürcher Fachstelle Integration, sagte am Montag vor den Medien, dass bei der Kinderbetreuung «kreative Lösungen» gefragt seien, damit die ukrainischen Mütter von solchen Angeboten profitieren könnten.
Bis jetzt sind nur wenige Kitas bekannt, die bereits ukrainische Flüchtlingskinder aufgenommen haben. Eine davon ist die Krippe Felsenburg in Kreuzlingen. Leiterin Nadja Suter erklärt, dass seit dieser Woche drei Kinder aus der Ukraine zu ihr kommen. Bis jetzt laufe alles einwandfrei. «Die Kinder sind sehr offen und verstehen sich gut mit den anderen», so Suter. «Die einzige Schwierigkeit ist die Sprache.»
Suter kommuniziert mit den Drei- bis Fünfjährigen aus der Ukraine, so gut es geht. «Bei Kindern in dem Alter kann man auch via Vorzeigen viel mitteilen. Wenn es zum Beispiel ‹z'Vieriessen› gibt, mache ich Handzeichen». Mit den Müttern oder Grossmütter der Kinder spreche sie entweder Englisch oder via Betreuungsperson der Familien, die übersetzen können.
Die Krippenleiterin rechnet damit, dass in den nächsten Wochen laufend weitere Kinder aus der Ukraine hinzukommen werden. Bezüglich der Finanzen sagt sie: «Aktuell sehen wir dies als Akt der Solidarität und als Möglichkeit, Hilfe zu leisten. Die finanziellen Aspekte stellen wir hinten an.»
Beim Sozialdienst der Stadt Zürich klingt es anders. «In Zürich hat es bei weitem genug Kita-Plätze», sagt Mediensprecherin Heike Isselhorst. Entsprechend sei es kein Problem, die zusätzlichen Flüchtlingskinder aufzunehmen. «Die meisten Geflüchteten aus der Ukraine, die jetzt in der Stadt Zürich sind, sind aktuell nur kurzfristig hier untergebracht.» Entweder seien sie auf der Durchreise oder warten darauf, den Schutzstatus S zu erhalten. Entsprechend würden die Kitas nicht mit Anfragen überrannt.
Sobald Ukrainerinnen und Ukrainer den Schutzstatus S hätten und der Bund sie der Stadt Zürich zuweist, erhalten die Flüchtlinge wie andere Asylsuchende Unterstützung. Bei Bedarf werden Kitaplätze subventioniert.
Ein weiteres Problemfeld dürfte die psychologische Betreuung werden. Bei 300'000 Flüchtenden würden mehrere zehntausend Personen auf psychologische Hilfe angewiesen sein. «Studien zur psychischen Gesundheit von Geflüchteten aus anderen Krisengebieten zeigen, dass rund 40-50 Prozent mit Traumafolgeerkrankungen zu kämpfen haben», sagt Dr. Carola Smolenski, Psychotherapeutin und Vorstandsmitglied der Föderation der Schweizer Psychologinnen und Psychologen FSP.
Sie erwarte, dass die Quote bei den ukrainischen Flüchtenden möglicherweise nicht ganz so hoch sein werde. Bis jetzt standen den Flüchtenden ausserhalb der Ukraine relativ sichere Fluchtrouten zur Verfügung. Auch die Einführung des neuen Schutzstatus S sei sehr unterstützend. «Viele Geflüchtete leiden im Zielland aufgrund ihres unsicheren Aufenthaltsstatus weiter», sagt Smolenski. Diese postmigrantischen Stressoren würden mit dem Schutzstatus S zu einem grossen Teil wegfallen.
Trotzdem ist die psychologische Betreuung keinesfalls gesichert. Seit Jahren ist das Fachpersonal stark ausgelastet. Corona hat die Situation nochmals verschärft – vor allem im Kinderbereich. «Kommt hinzu, dass die Nachfrage für jene Anlaufstellen, die sich auf Personen aus Kriegsgebieten spezialisieren, seit Jahren das Angebot übersteigt», sagt Smolenski.
Es gebe zwar verschiedenste Initiativen, die gegen die Engpässe ankämpfen. Sammelstellen für verschiedene psychologische Dienste seien eine Möglichkeit, Gratis-Sitzungen oder Therapien in Gruppensettings auch. Auch die FSP hat ihre Mitglieder aufgefordert, Unterstützungsangebote zu melden und wenn möglich zusätzliche Kapazitäten zu schaffen.
Ob dies jedoch reichen wird, kann auch Smolenski nicht sagen. Selbst wenn die Kapazitäten hochgeschraubt werden, so bleibt nach wie vor das Problem der Sprachbarriere. «Es gibt keine gesicherte Finanzierung für Dolmetscher im Gesundheitsbereich. Das ist in der Schweiz seit Jahren ein Problem», sagt die Therapeutin. «Gerade in diesem Bereich ist es jedoch elementar, sein Gegenüber richtig zu verstehen.» Bund und Kantone wären hier in der Verantwortung, etwas zu ändern.
Smolenski betont aber auch, dass bei weitem nicht alle Geflüchteten auf psychotherapeutische Betreuung angewiesen seien. In einem ersten Schritt sei zudem vor allem die psychosoziale Unterstützung wichtig. Und dafür müsse man keine therapeutische Ausbildung haben. «Alle Menschen im Umfeld der Geflüchteten können hier mithelfen, ihnen wieder Orientierung und Kontrolle in sicheren und verlässlichen Alltagsstrukturen zu ermöglichen. Also auch die Lehrer, Arbeitgeberinnen, Gastfamilien – jeder kann seinen Teil dazu beitragen».
fastfurious
Mr. Watson
Ich warte immer noch darauf, dass der Mark das reflektiert, mit höheren Löhne. Aber da scheint es eine Form von stillschweigenden Absprachen zu geben. Die Löhne steigen kaum bis nicht.
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