Die kleine Schweiz zeichnet sich durch eine grosse regionale Vielfalt aus. Kaum ein Kanton aber ist so speziell wie das Wallis. Das beginnt mit der Geografie: Das 80 Kilometer lange Rhonetal wird flankiert durch hohe Berge und Seitentäler. Man gelangt vom höchsten Punkt der Schweiz, der Dufourspitze, an die fast mediterranen Gestade des Genfersees.
Das Wallis ist ein Bergkanton mit einem eigensinnigen Menschenschlag. Er grenzt sich ab gegenüber der «Üsserschwiiz» mit einem schwer verständlichen Dialekt, der sich in der Deutschschweiz dennoch einiger Beliebtheit erfreut, wie der Erfolg von «Tschugger» zeigt. Abgrenzung ist derzeit aber auch innerhalb des Kantons ein kontroverses Thema.
Es geht um die neue Kantonsverfassung, über die am 3. März abgestimmt wird. Das heutige Grundgesetz ist mehr als 100 Jahre alt und geprägt durch eine Zeit, in der das Wallis ein tiefschwarzer Kanton unter der Fuchtel des römischen Katholizismus war. Seither hat er sich fundamental gewandelt, weshalb die Zeit reif war für eine neue Verfassung.
Das Walliser Stimmvolk sah es genauso. Fast 73 Prozent votierten 2018 im Grundsatz für eine neue Verfassung. Ein 130-köpfiger Verfassungsrat erarbeitete sie innerhalb von vier Jahren und genehmigte sie im letzten Jahr mit einer Zweidrittelmehrheit. Nun steht das Schlussvotum an, doch im deutschsprachigen Oberwallis formiert sich Widerstand.
Die Gräben zwischen den Sprachregionen scheinen so tief zu sein, dass sich die «NZZ am Sonntag» bange fragte: «Reisst das Wallis in zwei Teile?» Ganz unberechtigt ist diese Frage nicht, denn Franz Ruppen (SVP) und Roberto Schmidt (Mitte), die beiden Oberwalliser in der fünfköpfigen Kantonsregierung, opponieren in aller Offenheit gegen die Verfassung.
Statt den Bergkanton zu vereinen, scheint sie ihn zu entzweien. So sind die beiden Unterwalliser Staatsräte Frédéric Favre (FDP) und Mathias Reynard (SP) klar für die Verfassung. Während Regierungspräsident Christophe Darbellay (Mitte) es vorzog, auf Wolfsjagd zu gehen. Der ehemalige Chef der CVP Schweiz laviert in der Verfassungsfrage.
Vier Bürgerinnen und Bürger haben eine Beschwerde beim Grossen Rat eingereicht. Wegen der «Querschüsse» der Oberwalliser Staatsräte fordern sie das Parlament auf, die Abstimmung vom 3. März vorsorglich für ungültig zu erklären. Der Siderser FDP-Politiker François Genoud findet gar, bei einer Ablehnung wäre es besser, «zwei absolut getrennte Kantone zu haben».
Zwei Walliser Halbkantone? Eine irritierende Vorstellung, doch der Ärger im frankophonen Kantonsteil ist nachvollziehbar. Während langer Zeit war er ein Untertanengebiet, regiert von Oberwalliser Vögten. Heute ist er auch dank Zuwanderung klar grösser. Im oberen Kantonsteil lebt noch knapp ein Viertel der 350’000 Einwohnerinnen und Einwohner.
Und die Oberwalliser fürchten, weiter marginalisiert zu werden. Sie wollten eine Mindest-Sitzzahl im 130-köpfigen Kantonsparlament, doch dies wurde von der welschen Mehrheit im Verfassungsrat abgelehnt. Im neu siebenköpfigen Staatsrat soll ihnen nur ein Sitz garantiert werden, auch eine Zusicherung für eines der beiden Ständeratsmandate gab es nicht.
Das sorgt für Unmut östlich des Pfynwalds, der die Sprachgrenze zwischen den beiden Kantonsteilen bildet. Der Naterser Philipp Matthias Bregy, als Nationalrat und Chef der Mitte-Fraktion ein Schwergewicht im Bundeshaus, nannte gegenüber der «NZZ am Sonntag» weitere Gründe, warum er die neue Kantonsverfassung ablehnt.
Zum Glück bin ich "nur" Nationalrat. So kann ich zur neuen Verfassung NEIN sagen, ohne dass man mir den Mund verbieten will. #BeschwerdestattDiskussion #VerbotstattArgumente https://t.co/emHTFKfOYM
— Philipp Matthias Bregy 💙💛 (@pmbregy) February 6, 2024
Statt die kantonale Einheit zu fördern, habe man «ein ideologisches Werk voller Partikularinteressen geschaffen: Elternurlaub, Klimaneutralität, Kinderbetreuung, digitale Unversehrtheit, Ausländerstimmrecht auf Gemeindeebene». Der letzte Punkt ist jedoch dermassen umstritten, dass dem Stimmvolk auch eine Variante ohne ihn vorliegt.
Bregys Vorbehalte scheinen das Klischee der erzkonservativen Oberwalliser, die sich von niemandem etwas vorschreiben lassen wollen, zu bestätigen. Man agiert am Oberlauf des Rotten nach eigenen Regeln, was immer wieder zu Korruptionsfällen führt, etwa beim nicht enden wollenden Bau der Autobahn A9, der im Oberwallis nicht vom Fleck kommt.
«Das Wallis wird seit dem Mittelalter von einer Oligarchie beherrscht, von einer kleinen Oberschicht, die den Ton angibt», hiess es vor einigen Jahren in einem Artikel des «NZZ Folio» mit dem vielsagenden Titel «Sizilien der Schweiz». Allerdings hat der deutschsprachige Kantonsteil immer wieder bemerkenswerte Persönlichkeiten hervorgebracht.
Zum Beispiel Matthäus Schiner, der vom Bauernsohn zum Kardinal und Beinahe-Papst wurde. Oder Kaspar Stockalper, der als eine Art frühglobalisierter Unternehmer unter anderem mit Menschenhandel (sprich Söldnern) ein Vermögen machte und damit seinen prächtigen Palast in Brig erbaute, eine Mischung aus Barockschloss und Festung.
Aus Niederwald im Goms stammte Cäsar Ritz, der spätere «Hotelier der Könige und König der Hoteliers». Im letzten Vierteljahrhundert kamen drei Bundesratsmitglieder aus dem Wallis: Pascal Couchepin, Micheline Calmy-Rey (geboren in St.Maurice) und Viola Amherd. Erwähnen kann man auch die FIFA-Präsidenten Sepp Blatter und Gianni Infantino.
In manchen Dingen ist das Oberwallis sogar verblüffend progressiv. Das Bergdorf Unterbäch führte 1957 trotz Verbot der Kantonsregierung als erste Schweizer Gemeinde das Frauenstimm- und Wahlrecht ein und wurde zum «Rütli der Schweizer Frau». Und nirgends wurde die «Ehe für alle» 2021 so deutlich angenommen wie im kleinen Dorf Oberems.
Das erklärt den Stolz der Oberwalliser. Und doch werden sie am 3. März jede Stimme benötigen, um sich gegen die Übermacht des französischsprachigen Kantonsteils durchzusetzen. Daher rührt das Engagement von Franz Ruppen und Roberto Schmidt. Aber würde der Kanton durch ein Nein gespalten? So weit dürfte es wohl nicht kommen.
Herold Bieler, publizistischer Leiter des «Walliser Bote», räumte in einem Leitartikel ein, im Alltag hätten Ober- und Unterwallis «wenig bis gar nichts» gemeinsam. Doch in der Bevölkerung sorge die Verfassung für wenig Aufregung. Und wenn man mit den «Welschen» übers Skifahren, den FC Sitten oder die Arbeit parliere, stelle man fest: «Wir sind uns ähnlicher, als wir denken.»
Und jetzt schnell in den Atombunker, bevor mir der Kuhmist um die Ohren fliegt.😆