Nach einem ebenso facettenreichen wie turbulenten Leben als Kardinal, Fürstbischof, Kirchenfürst, Heerführer und energischer Diplomat starb Matthäus Schiner am 1. Oktober 1522 in Rom an der Pest. Er feierte einen spektakulären Aufstieg von seinen bescheidenen Anfängen als Sohn eines Walliser Bauern bis hin zu einer Leitfigur der frühneuzeitlichen europäischen Politik und gehört noch heute zu den beeindruckendsten und umstrittensten Persönlichkeiten der Schweizer Geschichte.
Matthäus Schiner wurde um 1465 in Mühlebach bei Ernen im Oberwallis als Sohn von Peter Schiner und Katharina Zmitweg geboren. Sein Vater, ein Zimmermann und Bauer, kämpfte in der Schlacht auf der Planta (1475), in der die Walliser den Savoyern während der Burgunderkriege (1474–1477) gegenüberstanden.
Obwohl über Schiners früheste Jahre nur sehr wenig bekannt ist, beeindruckte er Erzählungen zufolge alle mit seiner ausgeprägten Intelligenz und seinem hervorragenden Erinnerungsvermögen. Wahrscheinlich war es Niklaus Schiner, sein Onkel und späterer Fürstbischof von Sitten, der ihn zu einer kirchlichen Laufbahn anregte. Er studierte an der Domschule in Sitten und Como, wo er durch den berühmten Humanisten Heinrich Wölfli unterwiesen wurde.
Als versierter Linguist verblüffte Schiner seine Gesprächspartner mit fliessendem Hochdeutsch, Latein, Französisch sowie mehreren italienischen Dialekten, darunter auch Venetisch. Der Geist der italienischen Renaissance beeinflusste Schiners Persönlichkeit und Vorlieben nachhaltig: Er liebte die romantischen Geschichten Boccaccios sowie Dantes Gedichte – Julius Caesar, Livius, Tacitus und Sueton waren seine Lieblingsautoren. Schiner war sich klar bewusst, dass es für den nachhaltigen Erfolg innerhalb der Kirche Fähigkeiten im politischen Bereich brauchte. Das politische Ränkespiel wie auch künstlerisches Gespür wurden so zu seiner zweiten Natur.
Matthäus Schiner wurde 1489 Kaplan und übernahm in den darauffolgenden zehn Jahren einen bunten Strauss an kirchlichen sowie politischen Ämtern im Wallis: Pfarrer von Ernen und Obergesteln, Kaplan von Ernen, Dekan von Valeria und schliesslich Fürstbischof von Sitten im Jahr 1499. Schiners geistliche und weltliche Macht war im Wallis unübertroffen – er besass sogar eine Stimme im Reichstag. Er regierte mit einem echten Geist der Renaissance, kaufte prunkvolle Residenzen und baute neue Gebäude, wie beispielsweise die Kirche St. Theodul in Sitten. Allerdings hielten ihn viele im Wallis für einen polarisierenden Zeitgenossen.
In den 1490er-Jahren war das Wallis gespalten zwischen jenen, die sich politisch an Frankreich orientierten – vor allem Geistliche und Behördenmitglieder im Unterwallis –, und jenen, die sich engere Beziehungen zu Mailand und Österreich wünschten. Schiner machte keinen Hehl aus seinen engen Beziehungen zu den Sforza in Mailand, zum Papsttum und dem Heiligen Römischen Reich. In seinen Augen waren Frankreich und Savoyen habsüchtige Nationen, die nicht nur Italien und die Alte Eidgenossenschaft, sondern die ganze Christenheit beherrschen wollten. Schiner riet von der Unterstützung der Machtausdehnung Frankreichs auf Norditalien ab, um die inländischen Interessen der Eidgenossenschaft zu wahren sowie den Handel über die wichtigsten Alpenpässe – von denen viele im Wallis lagen – sicherzustellen.
Die erfolgreiche Eroberung Mailands durch Frankreich und der Beginn des Schwabenkriegs führte von 1499 bis 1500 zu einer umfassenden Machtverschiebung in Westeuropa. Sehr zu Schiners Unmut unterzeichneten Frankreich und die Eidgenossenschaft 1499 einen zehnjährigen Bündnisvertrag. Von diesem Zeitpunkt an setzte Schiner sich unermüdlich für die Aufrechterhaltung der Unabhängigkeit des Papsttums und der Eidgenossenschaft von Frankreich ein.
Zielstrebig und auf raffinierte Weise machte Schiner sich in der Eidgenossenschaft und in ganz Europa auf die Suche nach Verbündeten, die Frankreich ebenfalls ablehnend gegenüberstanden. Einige davon fand er in Bern. Obwohl die Berner eigentlich mit Frankreich und Savoyen verbündet waren, sicherten sie Schiner im Falle eines Überfalls seitens Frankreichs oder Savoyens den Schutz der territorialen Integrität des Wallis zu.
Mit dem Vertrag von Arona feierte Schiner 1503 einen weiteren politischen Sieg: Er brachte sich als Diplomat ein und sicherte der Eidgenossenschaft die Leventina, das Valle di Blenio und Bellinzona. Schiners Meisterstück war ein internationales Bündnis gegen Frankreich, das Frankreich schliesslich mit Waffengewalt von der italienischen Halbinsel vertreiben würde. Dadurch sollten seine Machtgrundlage im Wallis gesichert und sein Einfluss weit über die Alpen hinaus ausgeweitet werden.
Schiner unterbreitete Freunden und Amtskollegen in Österreich, Venedig, im Vatikan, in Spanien, Portugal und England – oft verschlüsselt – diplomatische Angebote, schätzte deren militärische Bereitschaft ein und versprach die sofortige Unterstützung der Eidgenossen bei einem möglichen Feldzug gegen Frankreich. Rom erwies sich als empfänglichste Partei für Schiners Vorstoss. 1506 engagierte der kriegerische Papst Julius II. die ersten 150 Schweizergardisten als Zeichen der Unterstützung. Im März 1510 schlossen die Eidgenossenschaft und das Papsttum ein offizielles Bündnis.
Darauf ernannte Julius II. Schiner zum päpstlichen Legaten. Dieses neue Bündnis kam zu einem günstigen Zeitpunkt, da die Lötschentaler Dörfer im selben Jahr einen Vertrag mit Frankreich unterzeichneten, der die Vorherrschaft Schiners im Wallis bedrohte.
Im Oktober 1511 proklamierte Papst Julius II. die «Heilige Liga» gegen Frankreich und ernannte Schiner zum Kardinal von St. Pudentiana in Rom. Die von Schiner lang erträumte spanisch-österreichisch-englisch-päpstlich-venezianische Allianz weitete die Italienischen Kriege zu einem grossen europäischen Konflikt aus. Im darauffolgenden Jahr übernahm Schiner als Oberbefehlshaber über das päpstliche Heer die Leitung der Schweizer Streitkräfte, bezwang Frankreich und vertrieb die Grossmacht innerhalb von nur sechs Wochen aus Italien.
Diese überraschende Wendung flösste den Monarchen Europas Ehrfurcht ein. Von 1512 bis 1515 war Schiners Macht auf ihrem Höhepunkt, als er den Mailändern den Titel Marquis von Vigevano abrang und von Julius II. zum Erzbischof von Novara und zum päpstlichen Gesandten ernannt wurde.
Massimiliano Sforza regierte mit seiner Zustimmung als Herzog von Mailand, war aber eigentlich eine Marionette der Schweiz. Jetzt träumte Schiner davon, die Eidgenossenschaft nicht nur auf Mailand, sondern auch auf Genua auszuweiten, was dem Bündnis einen Zugang zum Mittelmeer eröffnet hätte. Schiner war überzeugt, dass dies dank des Silbersegens aus Spanien, Österreich und Rom möglich wäre. Vielleicht war Schiner vor lauter Machtträumerei kurzsichtig geworden, denn da so viele Schweizer Männer in den Söldnerarmeen Europas dienten, fehlten der Eidgenossenschaft die Arbeitskräfte.
Der soziale und wirtschaftliche Zerfall in der Schweiz schürte dort das Banditentum und die Armut. Gleichzeitig interessierten sich korrupte Schweizer Politiker mehr für Geld als für Gesetze. Das Ausmass und die Kosten des Söldnertums rissen die Eidgenossenschaft zunehmend auseinander. Zudem entging Schiner die Tatsache, dass neue Artilleriewaffen mit Ursprung in Österreich die vermeintliche Unbesiegbarkeit der eidgenössischen Pikeniere zunichtemachten.
Zwar führte Schiner die Eidgenossen in der Schlacht bei Novara im Juni 1513 zu einem letzten grossen militärischen Sieg, wurde zwei Jahre später jedoch vom jungen französischen König Franz I. ausgebremst. Rund 10’000 Schweizer starben im September 1515 während des 16 Stunden andauernden brutalen Kampfes auf den Feldern rund um Marignano. Als Franz I. einige Wochen später siegreich in Mailand einzog, soll er zu den versammelten Menschen gesagt haben: «Ich habe diejenigen besiegt, die nur Cäsar besiegt hat.»
Schiner reiste nach London, wo er Heinrich VIII. ein weiteres Bündnis zwischen der Eidgenossenschaft, dem Papsttum, Österreich, England und Spanien gegen Frankreich vorschlug. Jedoch kam dieses aufgrund des Ewigen Friedens, der 1516 zwischen der Eidgenossenschaft und Frankreich geschlossen wurde, nie zustande. Schiner hatte nach der Niederlage von Marignano nicht nur in Italien, sondern auch im Wallis an Macht und Einfluss eingebüsst. Sein langjähriges Zerwürfnis mit Georg Supersaxo, seinem Frankreich zugetanen früheren Mentor und Arbeitgeber, machten alle Chancen auf eine Rückkehr nach Sitten zunichte.
Darum floh Schiner über den Furkapass und brachte sich in Zürich in Sicherheit. Dort lebte er von 1517 bis 1519 und freundete sich mit Huldrych Zwingli an. Wahrscheinlich waren sich die beiden schon davor in Italien begegnet: Sie waren beide dem Humanismus zugetan und mit Erasmus und Wölfli befreundet. Interessanterweise war es Schiner, der Zwingli mit seiner Empfehlung zum Posten als Leutpriester am Grossmünster verhalf. Obwohl Schiner davon überzeugt war, dass die katholische Kirche eine Reform benötigte, war er selber kein Reformator.
Seine letzten Jahre verbrachte Schiner überwiegend am kaiserlichen Hof in Wien. Er unterstützte 1519 die Wahl Karls V. zum Heiligen Römischen Kaiser und wurde dafür im darauffolgenden Jahr Bischof von Catania in Sizilien. Auf dem Reichstag in Worms beschuldigte Schiner Martin Luther öffentlich und traf sich 1521 mit Erasmus. Nach dem Tod von Papst Leo X. im Jahr 1522 reiste Schiner nach Rom, unterstützte den Kirchenstaat bei der Regierung während der Übergangszeit und nahm am Konklave teil. Er zählte zu den aussichtsreichsten Kandidaten für das Papstamt, scheiterte aber am Widerstand der französischen Kardinäle der Kurie.
Nichtsdestotrotz trug er entscheidend zur Wahl des Frankreich abgewandten Hadrians VI. als Papst bei. Bald darauf starb er an der Pest. Schiner wurde in der Kirche Santa Maria dell'Anima in Rom, der Nationalkirche des Heiligen Römischen Reiches westlich der Piazza Navona, in allen Ehren beigesetzt. 1527 wurde sein Grab beim berüchtigten Sacco di Roma von Landsknechten geplündert und zerstört.
Man könnte sagen, dass der Kampf um die Vorherrschaft in Westeuropa in den ersten Jahrzehnten des 16. Jahrhunderts in den Händen eines schlauen Wallisers lag. Zweifellos war Schiner ein energischer Politiker mit einem brillanten Verstand. Sein schneller Aufstieg zur Macht ist Beweis dafür, dass er ein Mann mit aussergewöhnlichen Kenntnissen rund um Kirche und Staat war, der felsenfest an seinen Überzeugungen festhielt.
Zeit seines Lebens war Schiner eine umstrittene Persönlichkeit – und er ist es bis heute, lange nach seinem Tod. Abhängig von der jeweiligen Quelle verändert sich die Darstellung Schiners drastisch: Die einen verurteilen ihn als korrupten Kleriker mit drei unehelichen Töchtern und als Kirchenfürst, dessen blutige Ambitionen Tausenden das Leben gekostet haben, viele andere aber sehen ihn als einen der Hauptarchitekten der frühneuzeitlichen europäischen Diplomatie und einen bedeutenden Verteidiger der eidgenössischen Unabhängigkeit.
Ganzheitlich und im breiteren geschichtlichen Kontext betrachtet formen und nuancieren Schiners Triumphe und Niederlagen zweifellos das Nationalbewusstsein der Schweiz – auch 500 Jahre nach seinem Tod.
>>> SRF Zeitblende vom 27.8.2022 zum 500. Todesjahr von Matthäus Schiner.