Die Juso wollen mit der 99-Prozent-Initiative das Kapital stärker besteuern. Welche Folgen hätte eine Annahme der Initiative?
Gisela Hürlimann: Wissen Sie, so viele Prognosen liegen am Schluss daneben – gerade auch im Bereich der Steuerwirkungen. Deshalb spreche ich als Historikerin lieber über die historischen Umstände, die eine solche Initiative hervorbringen. Und damit über ihre Vorgeschichte.
Erläutern Sie.
Das letzte Mal haben wir 2001 über eine ähnliche Initiative abgestimmt, sie stammte vom Schweizerischen Gewerkschaftsbund, der sie 1997 lanciert hatte. Die jetzige Initiative steht also in einer Tradition. Damals reagierte die Linke einerseits auf die in den 1990er-Jahren stark gestiegenen Börsengewinne. Und anderseits auf die Abschaffung der Kapitalgewinnsteuern in der Schweiz: 1984 gab es die Kapitalgewinnsteuer noch in sieben Kantonen. Bis 1996 war sie überall abgeschafft, zuletzt in Graubünden.
Weshalb verschwand die Kapitalgewinnsteuer in der Schweiz?
Drei Gründe sind dafür wichtig. Erstens ging der internationale Steuerwettbewerb infolge des politischen Systemumbruchs in Osteuropa, durch technologischen Wandel und die internationale Handelsliberalisierung so richtig los. Zweitens riss die Rezession der 1990er Löcher in die schweizerischen Staatskassen. Als Gegenrezept galt die Anziehungskraft tiefer Steuern – das Standortargument.
Und der dritte Grund?
Drittens wurde die Steuerharmonisierung zum Sargnagel sowohl der Kapitalgewinn- wie auch der Erbschaftssteuern innerhalb der Kernfamilie. Denn das Harmonisierungsgesetz von 1990 war ein politischer Minimalkompromiss. Es schrieb den Kantonen nur vor, sie müssten Einkommen und Vermögen besteuern. Bei den Erbschaftssteuern oder eben bei den Kapitalgewinnen waren sie genauso «frei» wie bei den Steuerprivilegien etwa für Holdings und Domizilfirmen. Dabei hatten zum Teil auch bürgerliche Politiker in den späten 1960er-Jahren bis Mitte 1970 gefordert, solche Steuerprivilegien sollten durch die Steuerharmonisierung genauso abgeschafft werden wie die Kapitalgewinnsteuer eingeführt.
Die vom Schweizerischen Gewerkschaftsbund SGB lancierte Initiative fiel an der Urne durch: 66 Prozent lehnten sie ab.
Ja, Bundesverwaltung und Bundesrat bekämpften die damalige Kapitalgewinnsteuer-Initiative klar. 40 Jahre früher hatte es aber anders getönt: Als es 1961 um die Weiterführung der Finanzordnung des Bundes ging – also unter anderem um die Fortsetzung der direkten Bundessteuer – war auch die Option einer Bundes-Kapitalgewinnsteuer in der Vernehmlassungsvorlage. Das Anliegen war politisch nicht mehrheitsfähig. Für Verwaltung und Bundesrat blieb es aber aktuell: In seinem ersten und bisher einzigen umfassenden Bericht über die «Steuerdefraudation» in der Schweiz vom Mai 1962 bezeichnete der Bundesrat die Besteuerung der privaten Kapitalgewinne als «Lücke» und als Massnahme zur «Ausmerzung von Ungleichheiten und Härten» des Schweizer Steuersystems.
Sie erwähnten vorhin die Haltung der Bürgerlichen. Wie stand die Linke dazu?
In der SP Schweiz hatte man eigene Pläne: Die Partei forderte 1971 einen «Totalumbau» des schweizerischen Steuersystems, erstens durch die Einführung der Mehrwertsteuer als breite Steuerbasis für mehr Wohlfahrtsstaatsleistungen. Zweitens verlangte die SPS eine zusätzliche progressive Einkommensteuer für Wohlhabende, also eine Reichtumssteuer. Daraus entstand 1973 die Volksinitiative «zur stärkeren Besteuerung des Reichtums und zur Entlastung der unteren Einkommen», die im Dezember 1977 immerhin 44,4 Prozent Ja-Stimmen erzielte.
Die 99-Prozent-Initiative ist also keine radikal neue Idee?
Nein, immer wieder gab die fehlende oder mangelhafte Erfassung von Kapitaleinkommen oder Kapitalgewinnen Anlass für politische Vorstösse. Die 99-Prozent-Initiative reiht sich hier als Reaktiv auf wirtschaftliche und gesellschaftliche Entwicklungen – die Zunahme der Vermögensungleichheit und die Zunahme von «Einkommen», das mit der Einkommenssteuer nicht erfasst wird – in diese Geschichte ein.
Und wird die Initiative eine Randnotiz in der Geschichte sein, oder wird sie eine nachhaltige Umwälzung vorantreiben?
Weil über die heutige Initiative frühestens 2020 abgestimmt wird, geht es aktuell eher darum, ob sie auch als Wahllokomotive für die Nationalratswahlen im Herbst funktioniert. Das ist deshalb interessant, wenn auch herausfordernd, weil klassische Ungleichheitsfragen in der Bevölkerung gegenüber der poststrukturellen Sorge um Klima und Umwelt wohl eher in den Hintergrund getreten sind.
Das sind ja Fragen und Forderungen, die ebenfalls oft aus der eher linken Ecke stammen.
Ja, und die Herausforderung wird darin bestehen, Ungleichheits- und Umweltfragen stärker miteinander zu verbinden – und das nicht nur international, wo das schon stattfindet, sondern auch in Bezug auf die Schweiz. Die Initiative versucht, näher bei aktuellen Befindlichkeiten zu sein, indem sie explizit die Krankenkassenprämien erwähnt, die viel konkreter «weh tun» als eine abstrakte Grösse wie die Vermögensungleichheit.
Ganz grundsätzlich gefragt: Wieso wird das Einkommen eigentlich gegenwärtig höher besteuert als das Vermögen?
Das hat einerseits historische, anderseits «ideelle» Gründe. Aus historischer Sicht ist der Fokus auf der Einkommensbesteuerung jung. So jung wie die allgemeine Verbreitung der Lohnarbeit. Erst wenn eine Mehrheit der Bevölkerung einen Erwerbslohn bezieht, der nicht nur zum Überleben, sondern auch zum Leben reicht, macht eine generelle Einkommenssteuer Sinn. Bis ins frühe 20. Jahrhundert haben die Kantone vor allem Besitz und Vermögen steuerlich erfasst. Der «Erwerb» wurde nur sekundär besteuert. Das nannte man das «Schweizer System». Die grosse Ausnahme war seit 1840 Basel-Stadt mit seiner modernen Einkommenssteuer.
Wann wandelte sich dieses System?
Im Ersten Weltkrieg erfolgte der allmähliche Umschwung. Hier zog vor allem der Systemwechsel in Zürich 1917 die anderen Kantone mit. Auch die damals noch provisorische direkte Bundessteuer wurde ab 1934 als Einkommenssteuer erhoben. Ab den 40er-Jahren lag der Fokus auf der Einkommensbesteuerung und die Vermögenssteuer war nur noch eine Art Zusatzsteuer. Daran gab es allerdings auch verteilungspolitisch begründete Kritik. So meinte der Aargauer Sozialdemokrat Arthur Schmid 1944, die Besteuerung des Einkommens sei wohl moderner als die des Vermögens. Sie entlaste aber die Besitzenden gegenüber der breiten Bevölkerung. Vor allem seit den 1990er-Jahren wird von wirtschaftsliberaler, auch zum Teil von finanzwissenschaftlicher Seite die Forderung erhoben, die Vermögenssteuern sollten gesenkt werden oder sogar abgeschafft.
Das Argument dabei: Mit der Vermögenssteuer werde das Verbot der Doppelbesteuerung verletzt.
Der Vergleich hinkt aber insofern, als wir eine Mehrfachbesteuerung auch sonst kennen: Denken Sie nur an die Mehrwertsteuer, die Sie ja mit Ihrem bereits der Einkommenssteuer unterworfenen Lohneinkommen bezahlen.
Laut einer Studie der Berner Fachhochschule aus dem Jahr 2015 besitzt das reichste Prozent der Schweiz 41 Prozent des Vermögens. 55,9 Prozent der Bevölkerung (diejenigen, die weniger als 50'000 Franken Vermögen besitzen) besitzen 1,6 Prozent des Gesamtvermögens. Eine Verringerung dieser Ungleichheit wäre sinnvoll und gerecht, oder?
Weniger Konzentration im Sinne einer breiteren Verteilung der Vermögen – das macht gesellschaftlich und wirtschaftlich durchaus Sinn. Dann käme es möglicherweise zu einer Anpassung von Nachfrage und Angebot auf dem Markt für Wohneigentum. Denn in der Schweiz besitzen nur gut 40 Prozent der Haushalte eine eigene Wohnung oder ein eigenes Haus. In den Niederlanden, einem Land, das mit unserem vergleichbar ist, sind es gegen 70 Prozent. Vor allem aber wird die hohe Vermögensungleichheit sprichwörtlich weiter «vererbt». Das gefällt vielen Liberalen nicht, die zum Beispiel für eine stärkere Besteuerung von «unverdientem», weil bloss geerbtem Vermögen sind, weil sie sonst die Chancengleichheit gefährdet sehen.
Sie sagen, eine breite Verteilung mache wirtschaftlich Sinn. Herrscht da eine breite Akzeptanz?
Interessant ist ja, dass in den letzten Jahren auch wirtschaftliche Wachstumsagenturen wie die OECD oder die Weltbank sich Sorgen über die in vielen Ländern gewachsene Ungleichheit machen. Und zwar, weil zu viel Ungleichheit sogar der wirtschaftlichen Entwicklung an und für sich schade. Das kehrt eine frühere wirtschaftsliberale Überzeugung um, wonach es Ungleichheit braucht, weil diese Anreize setze.
Was passiert denn mit einer Gesellschaft, wenn die wirtschaftliche Ungleichheit zunimmt? Der Soziologe und Armutsforscher Ueli Mäder (der die Initiative unterstützt) warnte in der «Arena»: Der soziale Zusammenhalt werde schwinden.
Ueli Mäder ist Soziologe und sein Argument hat sicher eine gewisse Berechtigung. Die Ungleichheit ist in anderen Gesellschaften als der schweizerischen wohl noch ausgeprägter. Als Historikerin, die Entwicklungen in der Zeit anschaut, mache ich dazu zwei Beobachtungen.
Welche?
Erstens: Verteilungsfragen sind nicht nur in Zeiten von Krisen und Knappheit aktuell, sondern auch oder gerade in Zeiten von Wachstum und Wohlstand. Wo der Kuchen grösser wird, gibt’s mehr zu verteilen.
Und zweitens?
Der soziale Zusammenhalt betrifft nicht nur das «Unten» und «Oben», sondern auch das «Nebeneinander» oder das «Eigene» und das «Fremde». Die Wahrnehmung von Ungleichheit richtet sich nicht immer gegen jene am oberen Ende. «Unten» geht manchmal auch gegen jene vor, die noch weiter «unten» stehen.
Die vielzitierte Angst vor dem Abstieg?
Ja. Und wenn wir beide Beobachtungen verknüpfen, dann haben wir zum Beispiel die Überfremdungsinitiativen der 1960er-Jahre. Damals wuchs die Schweizer Wirtschaft und mit ihr der Wohlstand. Doch viele «einfache» Leute unterstützten James Schwarzenbach, der selber aus einer reichen Unternehmensfamilie stammte, mit seiner Initiative «gegen die Überfremdung», die den Anteil an AusländerInnen in der Schweiz senken wollte. Unter den Mitgliedern des Schweizerischen Gewerkschaftsbundes stimmte damals eine Mehrheit für diese Initiative, obwohl der SGB dagegen war. Diese Leute arbeiteten teilweise in den gleichen Fabriken und auf den gleichen Baustellen wie die Italienerinnen und Italiener, deren berufliche Existenz in der Schweiz sie durch ihr Votum bedrohten.
Das gleiche Phänomen sahen wir bei der Wahl von Trump.
Ja, ein aus reichsten Verhältnissen stammender Donald Trump spielt heute mit der gleichen, gegen Einwanderer gerichteten Karte. Die enorm gewachsene Ungleichheit in den USA hat nicht zum Aufstand der Have-Nots gegen die Haves geführt – es sei denn, man interpretiert die Wahl eines extremen Populisten so. Das zeigt: Sozialer Zusammenhalt ist mehrschichtig und komplex – und vielschichtig sind auch die Verteilungs- und Positionskämpfe.
Die Initianten vertreten in ihrem Argumentarium die These: «Je höher die Kapitaleinkommen, desto tiefer die Löhne.» Stimmt diese Gleichung?
Weltweit hat sich das Verhältnis zwischen Kapitaleinkommen und Arbeitseinkommen – also Löhnen – am gesamten Volkseinkommen seit den 1990er-Jahren zulasten der Arbeitseinkommen verschlechtert. Das zeigen auch Berechnungen des Internationalen Währungsfonds. Diese Tendenz gibt es auch in der Schweiz. Aber hierzulande geht es nicht so sehr um tiefere Löhne, als vielmehr um die steigende Wichtigkeit von Kapital und Kapitalerträgen. Wenn man die Löhne anschaut, muss man zudem differenzieren, welche Löhne unter Druck geraten. Abgesehen von den Managerlöhnen sind zum Beispiel auch die Kaderlöhne beim Staat, im Sozial- und Bildungsbereich gestiegen. Davon profitiert ein Mittelstand, der sich nach oben hin orientieren kann.
Im Tieflohnbereich ist allerdings eine Stagnation festzustellen.
Ja, gerade bei Berufen, in denen Frauen und Migrantinnen und Migranten aus südlichen und östlichen Ländern übervertreten sind, ziehen die Löhne nicht mit der allgemeinen Entwicklung mit. Stichwörter sind hier: Dentalassistentin, Coiffeuse, Detailhandelsverkäufer oder Hauswirtschaftsangestellte. Wir haben es hier ganz klar mit Spaltungen innerhalb der postmodernen Dienstleistungsgesellschaft zu tun. Die werden besonders deutlich, wenn gut verdienende Dozentinnen, Projektleiter oder Juristen sich Nannys und Putzfrauen leisten und den Bügelservice outsourcen. Mit einer Kapitalgewinnsteuer würde man bei dieser neuprivilegierten oberen Mittelklasse nichts holen.
Wie könnte man dieser Entwicklung entgegenwirken?
Da muss man bei der Primärverteilung ansetzen – und bei einer umfassenden Gerechtigkeitsperspektive, die die Kategorie Geschlecht, Schicht und Herkunft miteinander verknüpft.
Fünf bis zehn Milliarden an zusätzlichen Steuereinnahmen versprechen sich die Initianten durch die 99-Prozent-Initiative. Dieses Geld soll einkommensschwachen BürgerInnen zugutekommen, bspw. durch Prämienverbilligungen oder steuerliche Entlastungen. Kritiker halten dagegen: Wegen Ausweichbewegungen sei der effektive Betrag viel tiefer.
Ob nun fünf bis zehn Milliarden oder weniger: Das sind halt Schätzungen, hüben wie drüben. Aber wichtig scheint mir: Die Mehrheit der allgemeinen Steuereinnahmen dient ja nicht in erster Linie der Wohlstandsumverteilung von oben nach unten.
Sondern?
Eher den Bereitstellungen von Infrastrukturen und Dienstleistungen, die allen zugutekommen. Die mit der Initiative angedachte Prämienverbilligung oder steuerliche Entlastungen für tiefe Einkommen können tatsächlich etwas Luft verschaffen. Aber trotzdem bleibt die primäre Verteilung von Wohlstand damit unangetastet. Zum Beispiel die Krankenversicherung, die auf einem degressiven Kopf-Prämien-System beruht. Bisher war jede Debatte darüber, das System zu ändern, chancenlos. Alternativen wären auch anspruchsvoll. Dann verteilt man halt lieber ex post wieder um – das ist ja beim Finanzausgleich zwischen den Kantonen, die untereinander Steuerwettbewerb betreiben, ähnlich.
Sie sagen nun eigentlich: Umverteilung ist bloss Symptombekämpfung, ein Tropfen auf dem heissen Stein?
Sie spitzen das etwas zu. Lassen Sie es mich philosophischer formulieren: Die buchhalterische Bilanz der Umverteilung ist schwierig zu evaluieren. Und sie geht nicht immer auf. Doch Umverteilung ist halt eine Gesellschaftsmaschine, die durch ihren Aktivismus auch politisch und symbolisch für Ausgleich und Zusammenhalt sorgt. Das ist enorm wichtig!
Nun behaupten Gegner: Die Ungleichheit der Vermögensverteilung sei in der Schweiz gar nicht so extrem. Betrachte man etwa das steuerbefreite – «vergessene» – Vermögen (vor allem Kapital in der zweiten und dritten Säule der Altersvorsorge), so ergebe sich ein anderes Bild.
Ich sehe das kritisch: Es gibt auch «versteckte» Vermögen und die schenken vor allem bei reichen Personen ein. Das sehen wir an den Erträgen der aktuellen Steueramnestie. Allein im Kanton Zürich sind seit 2010 8,4 Milliarden Franken aufgetaucht, also vorher nicht deklariertes Vermögen oder Einkommen. Dazu trägt übrigens auch der internationale Druck bei, der zur Abschaffung des Bankgeheimnisses im transnationalen Verkehr geführt und den automatischen Informationsaustausch gebracht hat. Die BesitzerInnen ausländischer Vermögen in der Schweiz deklarieren das nun, weil sie Probleme mit ihrem Herkunftsland vermeiden wollen. Diese immensen Summen wurden von den bisherigen Steuerstatistiken, die meistens die Quelle sind für die Berechnung der Vermögensungleichheit, gar noch nicht berücksichtigt.
Sie widersprechen also?
Ich würde einfach das Argument umdrehen und sagen: Ja, rechnen wir die «vergessenen» Vermögen aus der zweiten und dritten Säule hinein, aber tun wir auch dasselbe mit den «versteckten» Vermögen aus dem Kapital- und Immobilienbesitz. Und schauen wir dann, ob die messbare Vermögensungleichheit am Schluss vielleicht nicht noch ausgeprägter wird als jetzt schon. Zudem würde ich mit dem Argument der Altersguthaben als Vermögen etwas vorsichtig sein. 45 Prozent der Frauen und 38 Prozent der Männer in der Schweiz haben gar keine dritte Säule. Und: Die Pensionskassenguthaben stehen unter Druck von sinkenden Renditen und der Senkung von Umwandlungssätzen. Da können auch die Altersguthaben aus der 2. Säule schmelzen.
Der Arbeitgeberpräsident Valentin Vogt nannte die Initiative in der «Arena» «ein Fläschchen aus dem Giftschrank», FDP-Nationalrätin Christa Markwalder warf der Juso vor, damit den Sozialismus einführen zu wollen, Economiesuisse spricht von einer «absurden Idee». Ist das Angstmacherei oder sind die Vorwürfe berechtigt?
Vor 150 Jahren fürchteten manche und hofften andere, progressive Steuern könnten eine sozialistische Gesellschaftsordnung befördern. Doch schon 1952 vermutete der Ökonom John Kenneth Galbraith, kaum ein anderer Mechanismus habe so viel zur Sicherung des Kapitalismus in den USA getan wie die progressive Einkommenssteuer. Die Bilanz für die Schweiz sieht wohl ähnlich aus. Solche Polemiken sind die Mechanismen des üblichen politischen Abwehrdispositivs, sei dies von rechts oder von links. Dieses Ritual gehört dazu. In Abwandlung von Georg Simmel würde ich sagen: Politischer Streit verleiht Demokratie.
Die Juso schreiben auf ihrer Webseite: «Wir kämpfen für [...] eine Gesellschaft, in der alle Menschen die gleichen Möglichkeiten haben, ihre Talente zu entfalten. Eine Gesellschaft, in der nicht Profitinteressen, sondern der Mensch im Mittelpunkt steht.» Ist das überhaupt realistisch?
Mit dem zitierten Credo stehen die Juso dem liberalen Egalitarismus interessanterweise ja deutlich näher als der Fantasie von Sozialismus in den Köpfen der GegnerInnen. Das ist auch realistischer. Denn eine gänzlich gleiche Gesellschaft ist kaum vorstellbar. In der Geschichte haben wir das nie erlebt. Und die moderne Freiheit, Vielfalt und Individualität bringen neue Ungleichheiten mit sich. Nicht alle Ungleichheiten sind problematisch. Aber dort, wo sie die «gleichen Möglichkeiten» beschneiden, haben wir ein Gerechtigkeitsproblem. Kaum jemand in der Politik hinterfragt heute das Postulat der Chancengleichheit. Aber wie man es einlöst, dafür gibt’s unterschiedliche Rezepte.
Gegner verweisen auf die erfolgreichen Länder im Norden, Norwegen, Dänemark, Schweden und Finnland und Deutschland, die bei der Vermögensverteilung den umgekehrten Weg gehen: Sie besteuern Kapital tiefer als Einkommen.
Bei skandinavischen Ländern gilt es punkto Vermögensungleichheit aufzupassen. Das wurde lange Zeit vom skandinavischen Wohlfahrtswunder überdeckt. Dabei ist die Vermögensungleichheit dort hoch und seit den 2000ern gewachsen. Begünstigt wurde das durch die Kombination aus freiem Markt und sozialer Absicherung. Das zeigt: Sozialstaat führt noch nicht zu Sozialismus oder zu einer gänzlich egalitären Gesellschaft.
Das Kapital sei mobil, behaupten Bürgerliche. Droht bei einer Annahme der Initiative die Abwanderung von Kapital aus der Schweiz und damit eine Verringerung des Steuersubstrats?
Es gibt manche Fälle, wo das passiert, zum Beispiel gibt es aktuell einige Firmen, die von Zürich nach Basel abwandern, weil dort unter einer sozialdemokratischen Finanzdirektorin die Gewinnsteuern gesenkt wurden. Aber Luzern hat von seiner rekordtiefen Gewinnsteuersenkung nicht wie geplant profitiert. Stattdessen gab’s ein Loch in der Staatskasse und der Finanzdirektor, der als ehemaliger Leiter der Steuerverwaltung der geistige Vater dieser Reform war, wird voraussichtlich nicht wiedergewählt. Offenbar geht seine Rechnung im doppelten Sinn nicht auf. Tiefe Steuern allein machen es also nicht aus, auch wenn sie eine Rolle spielen.
Welche anderen Faktoren sind denn noch entscheidend?
Die Schweiz bietet vorderhand noch andere Vorteile für Kapitalkräftige und Unternehmen. Seien das ihre Finanzdienstleistungen oder ihre Bildungsinstitutionen, «kurze Wege» der Verhandlung und Entscheidung bei der Verwaltung. Oder Rechtssicherheit. Die führt so weit, dass multinationale Firmen in der Schweiz an die Steuerverwaltung gelangen, um ihre Gewinne lieber hier als anderswo zu deklarieren. Nur: Das führt uns wieder zur internationalen Steuergerechtigkeit und hier ist die Schweiz weiterhin in der Verantwortung.
Die Initiative wurde mit über 130'000 Unterschriften eingereicht, trotzdem blieb es erstaunlich ruhig um die 99-Prozent-Initiative. Wie weht der Wind politisch? Ist der Eindruck richtig, dass die Exzesse von Wirtschaftsvertretern die Bevölkerung nicht mehr zu echauffieren vermögen wie früher?
Die Schweiz versteht sich als liberales Land. Trotzdem hat nur eine Minderheit Wohneigentum. Auch als Mieterinnen und Mieter fühlen sich die Menschen hier sicher. Das hat auch mit dem Ausbau der sozialen und infrastrukturellen Leistungen zu tun. Da stehen wir heute an einem anderen Punkt als in den 1970ern. Bis 1977 gab‘s noch keine obligatorische schweizweite Arbeitslosenversicherung. Keine Mutterschaftsversicherung. Und kein Krankenkassenobligatorium. Frauen lagen punkto höhere Bildung und Erwerbsbeteiligung klar zurück. Mit dem Ausbau des öffentlichen Schienenverkehrs fing man erst in den 1980er-Jahren im grossen Stil an. Es hat sich vieles geändert innert der letzten 40–50 Jahre. Auch deshalb ist für viele Menschen eine hohe Vermögensungleichheit letztlich ein bisschen abstrakt, solange sie eigentlich gut leben. Und das tun in der Schweiz die meisten.
Zusammengefasst: Solange die Wirtschaft brummt, mault man hierzulande nicht?
Ja, dabei produziert eine gut funktionierende Wirtschaft automatisch eine ungleiche Lohnverteilung. Auch wenn Gewerkschaften das thematisieren: Viele Arbeitnehmende tragen das mit, ob bewusst oder unbewusst. Nämlich dadurch, dass es immer noch ein Tabu ist, über den eigenen Lohn oder das Vermögen zu sprechen. Daran haben auch Transparenzkampagnen bisher nicht viel geändert.
Ist diese Laissez-faire-Einstellung unumstösslich? Es gibt ja Vorstösse in diese Richtung ...
Ich schliesse einen Kulturwandel nicht aus. Schliesslich haben wir den Greta-Effekt in der Klimapolitik auch nicht in dieser Stärke voraussehen können. Es kann sein, dass dieser aktuelle Politisierungsschub in einem positiven Sinn «spillover»-Effekte entfaltet: dass sich junge Menschen auch über solche Fragen des richtigen Lebens Gedanken machen, die über Mobilität, Ernährung und Energieverbrauch hinausgehen: Was ist eine adäquate Entlohnung für welche Tätigkeit? Welche Rolle spielt dabei der Faktor Geschlecht oder Herkunft? Welche Art von Arbeitsteilung ist sozial und ökologisch nachhaltig? Ich bin gespannt, was die «Klimajugend» dazu zu sagen hat.
Die 1:12-Initiative hatte an der Urne keine Chance. Die nationale Erbschaftssteuer-Initiative wurde abgelehnt, der Mindestlohn blieb ebenso chancenlos wie das bedingungslose Grundeinkommen. Haben es solche «radikalen» Initiativen in der Schweiz einfach schwer?
Jein. Und: Wer definiert, was «radikal» ist? Die Abzocker-Initiative wurde am Anfang auch als «radikal» bezeichnet, die bürgerlichen Parteien und die Wirtschaftsverbände waren auf nationaler Ebene dagegen, auch wenn der Initiant alles andere als ein Linker war. Die Initiative kam dann durch, hat aber eigentlich kaum etwas bewirkt. Sie war ja inhaltlich auch nicht wirklich radikal. Auch andere Initiativen, die vom politischen Mainstream als radikal bezeichnet werden, haben manchmal Erfolg. Denken Sie nur an die Minarett-Initiative oder jene gegen Masseneinwanderung. Im Bereich der Umverteilung ist es allerdings schwierig. Das dürfte dem Initiativkomitee aber bewusst sein.
Sie forschen zu Sozial-, Wirtschafts- und Migrationsgeschichte: Hat sich die Haltung der Schweizer Bevölkerung zu den Themen Kapital, Arbeit und Steuern in den letzten Jahrzehnten verändert? Ist da ein Wandel spürbar?
Ich sehe ein Potenzial, dass alle drei Fragen Kapital, Arbeit und Steuern sich in der neuen Gender-Thematisierung miteinander verflechten und neu debattiert werden: Welches Geschlecht hat mehr Vermögen? Warum sitzen in der Schweiz immer noch vor allem Männer an Spitzenpositionen? Warum gibt es eigentlich noch keine Individualbesteuerung, die das Einkommen von verheirateten Frauen und Männern je einzeln besteuert? Solche Fragen werden von Feministinnen so gut wie von progressiven Männern und von Wirtschaftsliberalen adressiert. Von letzteren unter anderem, weil es ihnen Sorgen macht, dass sich das «Humankapital» von hochqualifizierten Frauen in der Schweiz noch zu wenig ausschöpfen lässt. Sie diagnostizieren Fehlanreize in der Steuerpolitik. Das zeigt: Ob wir über sozialen Ausgleich oder über die Gleichberechtigung der Geschlechter sprechen: Die Steuerfrage gehört dazu. Deshalb: Wer über Steuerpolitik spricht, sollte auch die Geschlechterfrage mitberücksichtigen.