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Der tschechische Ökonom und Bestseller-Autor Tomas Sedlacek vergleicht den Kapitalismus gerne mit einem Velofahrer: Sobald er stillsteht, respektive nicht mehr wächst, fällt er um.
Die Frage, ob der Kapitalismus zu permanentem Wachstum verdammt ist, beschäftigt die Menschheit seit Jahrzehnten. 1972 veröffentlichte der Club of Rome seinen legendären Report «Die Grenzen des Wachstums». Dieser gipfelte in der düsteren Prophezeiung, dass der kapitalistische Wachstumszwang in einer Ökokatastrophe enden müsse.
Der Club of Rome versank bald wieder in der Versenkung, denn die Ökonomen hatten mittlerweile das «qualitative Wachstum» entdeckt. Investitionen in den Umweltschutz würden ebenfalls das Bruttoinlandprodukt (BIP) steigern, ohne das Ökosystem zu zerstören, so die neue Doktrin. Der kapitalistische Velofahrer konnte mit gutem Gewissen weiterradeln.
Heute verbreiten Deflation und Stagnation Angst und Schrecken. Vieles deutet daraufhin, dass die modernen Volkswirtschaften in eine längere Phase eines unfreiwilligen Null-Wachstums verfallen könnten. Der Begriff «säkulare Stagnation» macht die Runde. Fällt der kapitalistische Velofahrer demnach doch bald auf die Nase?
Nicht unbedingt, wie das Beispiel Japan zeigt. Nippon wird zwar im Westen immer wieder als abschreckendes Beispiel angeführt. Die Wirtschaft stagniert dort tatsächlich seit Jahrzehnten und ja, auch der Yen neigt zu einer leichten Abwertung. Doch entscheidend sind nicht die Kennzahlen der Ökonomen, sondern die Wohlfahrt der Menschen; und die zeigt ein ganz anderes Bild, wie Zachary Karabell in der jüngsten Ausgabe von «Foreign Affairs» schreibt:
«In der Realität ist überhaupt nichts falsch in Japan», stellt Karabell fest. «Nach fast allen gängigen Massstäben, um die Wohlfahrt zu messen, befindet sich Japan an der Spitze. Es hat eine der höchsten Lebenserwartungen der Welt und eine der tiefsten Kriminalitätsraten. Die Japaner erfreuen sich bester Gesundheit und eines exzellenten Bildungssystems.» Und wer schon einmal in Japan war, wird wahrscheinlich hinzufügen: Sie besitzen auch die beste Küche der Welt.
Das reale Japan hat somit wenig mit dem im Westen verbreiteten Zerrbild zu tun. Es stimmt zwar, dass Japan weltweit die höchsten Staatsschulden aufweist, aber auch die tiefsten Steuern. Die Japaner haben schlicht einen anderen Deal mit dem Staat geschlossen als der Westen. Er geht wie folgt: Wir kaufen Staatsanleihen zu mickrigen Zinsen, und ihr verschont uns mit dem Steuervogt.
Bisher ist dieser Deal aufgegangen. «Die wirtschaftliche Stagnation hat kaum einen Einfluss auf die hohe Qualität des öffentlichen Lebens in Japan», schreibt Karabell.
So gesehen muss man Japan daher keineswegs als Beispiel eines dekadenten Kapitalismus sehen. Nippon könnte vielmehr wegweisend sein für einen Kapitalismus ohne Wachstumszwang. Der technische Fortschritt wird dabei eine entscheidende Rolle spielen.
Das McKinsey Global Institute, die Denkfabrik des gleichnamigen Beratungsunternehmens, hat kürzlich geschätzt, dass bald Roboter fast jeden zweiten Job verrichten werden. Dies wird zwangsläufig zu tieferen Löhnen führen, aber auch zu tieferen Preisen. Beides zusammen wird das BIP schrumpfen lassen, doch ist das BIP in der digitalen Wirtschaft überhaupt noch der richtige Massstab?
«Bei Wikipedia zu browsen, auf YouTube Videos anzuschauen oder bei Google Informationen zu suchen, bedeuten einen Mehrwert für die Menschen, aber das kostet nichts und schlägt sich deshalb auch nicht im BIP nieder», stellt Karabell fest. Ähnlich kann man feststellen, dass beispielsweise Solarzellen zwar bei der Installation etwas kosten, dann aber gratis Strom liefern.
Die digitale Welt wird wahrscheinlich auch im Westen das BIP schrumpfen lassen. Das bedeutet jedoch nicht, dass der kapitalistische Velofahrer umfallen wird. Oder wie es Karabell treffend formuliert: «Vielleicht stösst die Welt an die Grenzen des Wachstums, aber sie stösst noch lange nicht an die Grenzen des Wohlstandes.»