Es passierte am Ende seiner Ferien: Nach zwei Wochen in der Karibik wollte Marco* mit der Fluggesellschaft Swiss von Miami zurück nach Zürich fliegen. «Als ich am Flughafen wartete, wurde der Flug zuerst eine Stunde verschoben und dann ganz annulliert», sagt er zu watson.
Die Swiss habe schnell geholfen: Sofort sei für ihn eine Unterkunft und ein Ersatzflug am Folgetag organisiert worden. Doch eines hat Marco bis heute nie erhalten: eine Entschädigung. «Ich war überzeugt davon, dass ich Anspruch habe auf eine Ausgleichszahlung von 600 Euro», sagt er. Aber die Sache hat einen Haken.
Drei Monate nach Marcos annulliertem Flug erhielt er Post vom Online-Portal «Cancelled.ch», das Fluggästen hilft, die gesetzlich zustehenden Ausgleichszahlungen zu erhalten. Doch die Rückmeldung war ernüchternd: «Ihr Flug ist nicht anspruchsberechtigt.» Fluggesellschaften seien zwar zu Ausgleichszahlungen verpflichtet durch die EU-Fluggastrechteverordnung (Nr. 261/2004). Diese Verordnung gelte jedoch nur für Flüge zwischen der Schweiz und EU-Staaten. «Bei Drittstaatenflügen besteht keine Pflicht zur Ausgleichszahlung», schreibt «Cancelled.ch». Wie ist diese Ungleichbehandlung möglich?
Die Fluggastrechteverordnung gilt für alle Flugreisen aufgrund des bilateralen Luftverkehrsabkommens. Laut dem Bundesamt für Zivilluftfahrt (BAZL) sind die einzige Ausnahme Flüge mit Airlines, die ihren Sitz ausserhalb der EU, Schweiz, Norwegen oder Island haben.
So stünden Fluggästen bei Annullationen von Flügen mit einer Distanz bis zu 1500 Kilometer eine Ausgleichszahlung von 250 Euro zu, von 1500 bis 3500 Kilometer sind es 400 Euro und alles darüber sind 600 Euro. Dies jedoch nur, wenn die Annullierung weniger als 14 Tage vor dem Abflug passierte und sie nicht auf «aussergewöhnliche Umstände» zurückzuführen sei.
Doch nach dieser Definition müsste auch Marcos Flug von Miami nach Zürich unter die EU-Fluggastrechteverordnung fallen. Geld erhalten hat er trotzdem nicht. Wie kommt das?
watson hat dazu Simon Sommer befragt, Jurist beim Online-Portal «Cancelled.ch». Er kennt den Grund, weshalb Marco keine Entschädigung bekommt: ein Urteil des Zivilgerichts Basel-Stadt vom 15. Mai 2012. Damals habe ein Passagier den Rechtsweg gewählt, um seine Ausgleichszahlung von der Swiss einzufordern, die ihm laut der EU-Fluggastrechteverordnung zustehe.
«Die Fluggesellschaften Swiss und Edelweiss haben sich dagegen gewehrt. Sie argumentierten, die Verordnung der EU müsse man zwar zwischen der EU und der Schweiz anwenden. Doch ein EU-Beschluss könne keine Wirkung auf einen Flug zwischen der Schweiz und einem Drittstaat haben», erklärt Sommer. Das Gericht habe den Airlines recht gegeben.
«Entgegen dem Wortlaut der EU-Fluggastrechteverordnung fallen in der Schweiz deshalb nach Ansicht des Gerichts Flugstrecken ohne EU-Bezug nicht unter die Verordnung. Somit besteht aus Sicht der Swiss auch kein Anspruch auf eine Ausgleichszahlung», sagt Sommer. Das Urteil sei aus diesem Grund in der Branche extrem umstritten. Und: Es werde nicht von allen genutzt. So hat Sommer Kenntnis von ausländischen Airlines, welche auch Langstrecken-Annullationen in die Schweiz entschädigen.
Wieder zurück zum BAZL. Wieso schreibt das Bundesamt nichts über das Urteil von Basel-Stadt auf ihrer Website? «Uns ist das Gerichtsurteil bekannt. Es wurde jedoch von einem kantonalen Gericht in erster Instanz gefällt», schreibt das BAZL auf Anfrage.
Das Bundesamt sieht es so: Die Schweiz habe bei der Verabschiedung der EU-Fluggastrechteverordnung «keine Ausnahme» vom Anwendungsbereich formuliert. Und genau hier liegt der springende Punkt, wie Simon Sommer von «Cancelled.ch» sagt.
In der Schweiz herrsche eine grosse Rechtsunsicherheit bezüglich den Fluggastrechten und der EU-Verordnung. Im Jahr 2018 habe «Cancelled.ch» deshalb versucht, das umstrittene Urteil aus Basel-Stadt auf politischem Weg zu revidieren.
Nach Gesprächen mit diversen Parlamentariern habe sich vor allem die bürgerliche Seite für das Anliegen eingesetzt, sagt Sommer. Alt-FDP-Nationalrat Hans-Ulrich Bigler reichte eine Motion ein. Er forderte vom Bundesrat, dass dieser die rechtlichen Grundlagen so anpasse, «dass alle Passagiere, welche in die Schweiz und/oder aus der Schweiz fliegen, die gleichen Fluggastrechte haben wie in der Europäischen Union. Namentlich müssen die Passagierrechte gemäss EU-Fluggastrechtverordnung allen Passagieren gewährt werden».
Der Bundesrat, unter der damaligen UVEK-Vorsteherin Doris Leuthard, beantragte jedoch die Ablehnung der Motion. Mit der Begründung: Die EU-Kommission plane eine Revision der Fluggastrechteverordnung. Dadurch «dürften die Anwendungsunterschiede zwischen der Schweiz und den EU-Staaten daher weitgehend beseitigt werden», schrieb der Bundesrat damals. Das Parlament folgte dem Antrag.
Passiert ist seitdem: wenig. Noch immer sind Schweizer Fluggesellschaften nicht verpflichtet, Ausgleichszahlungen bei kurzfristigen Annullationen von Flügen ausserhalb der EU zu bezahlen. Im Gegensatz zur EU, wo das seit dem Jahr 2004 Tatsache ist. «Dass nichts mehr geschehen ist, verwundert mich wenig», sagt Hans-Ulrich Bigler auf Anfrage von watson. Doch das Thema sei immer noch aktuell: «Es ist wichtig, Rechtssicherheit zu haben.»
Mit der Gesetzeslage beschäftigt sich auch Luftrecht-Expertin Regula Dettling-Ott. Sie vertrat die Lufthansa Group bei der EU-Kommission in Brüssel, davor war sie für die Swiss tätig und sie doziert Luftrecht an der Universität Bern. «Die Problematik, wo die EU-Verordnung gilt, ist so kompliziert wie unser Verhältnis zur EU», sagt sie. Es gebe unterschiedliche Ansichten, auf welche Flüge von und nach der Schweiz die europäische Verordnung anwendbar sei.
Der Standpunkt des BAZLs, die Schweiz habe seinerzeit «keine Ausnahme» definiert, erstaunt Dettling-Ott, denn es gehe um die grundsätzliche Frage, ob das übernommene europäische Recht auch auf Flügen gelte, die nichts mit der EU zu tun haben – und zwischen der Schweiz und Drittstaaten.
Auch das Argument des Bundesrates, eine Revision durch die EU-Kommission werde bald kommen, sieht sie differenziert. «Die Revision ist seit Jahren hängig und sie ist innerhalb der EU sehr umstritten. Zudem ist die jetzige Kommission noch ein Jahr im Amt, sie wird dieses schwierige Dossier nicht mehr vorantreiben», sagt Dettling-Ott.
Die Expertin wird deutlich: «Die Schweiz muss hier selbst überlegen, wie weit sie bei Drittstaaten gehen will. Es braucht einen Schutz der Passagiere. Die Frage ist, wie man die Interessen zwischen Passagieren und Fluggesellschaften ausgleicht. Der gleiche Passagierer, der eine Entschädigung erwartet, will auch möglichst günstig fliegen.» Denn es gehe um viel Geld, wenn man es aus Sicht der Airlines betrachte. «Es geht um substanzielle Summen», ist Dettling-Ott überzeugt.
Sara Stalder, Geschäftsleiterin der Stiftung Konsumentenschutz, ist nicht zufrieden mit der aktuellen Lösung. «Fluggesellschaften wie die Swiss versuchen, die Ausgleichszahlungen nicht leisten zu müssen», sagt sie. Für die Konsumentenschützerin sei klar: «Die Politik hätte die Möglichkeit, diese Rechtunsicherheit zu klären.»
Für Simon Sommer von «Cancelled.ch» ist klar: «In der Schweiz steht man als Fluggast schlechter dar als in der EU. Und die Fluggesellschaften sparen so mehrere Millionen Franken pro Jahr.» Sommer rechnet vor: «In ein volles Langstreckenflugzeug passen rund 300 Passagiere. Bei kurzfristigen, selbstverschuldeten Annullationen müssten Airlines durch die EU-Verordnung jedem Passagier 600 Euro bezahlen. Das wären theoretisch 180’000 Euro pro Strecke, welches Fluggesellschaften in der Schweiz durch das Urteil von Basel-Stadt sparen – wenn alle Fluggäste auf die Ausgleichszahlung beharren.»
Herauszufinden, wie viel Geld mit den fehlenden Ausgleichszahlungen genau den Schweizer Konsumenten durch die Lappen geht, ist schwierig. Man müsste die Zahl aller Flüge kennen, die innerhalb von 14 Tagen vor Abflug annulliert wurden und ein Ziel ausserhalb der EU angepeilt haben. Zudem darf der Grund für die Annullierung nicht auf «aussergewöhnliche Umstände» zurückzuführen sein.
Auf Anfrage beim Flughafen Zürich teilt dieser mit, dass man nur Zahlen habe von Annullationen, die weniger als 48 Stunden vor Abflug gemacht wurden. «Vom 1. August 2022 bis zum 31. Juli 2023 wurden 180 Langstreckenflüge kurzfristig annulliert. Für weitere Informationen oder Details wenden Sie sich gerne direkt an die Airlines», schreibt der Flughafen Zürich.
Auf Anfrage bei Helvetic Airways schreibt eine Sprecherin: «Wir haben in den letzten zwölf Monaten keinen Flug annulliert, der zu Ausgleichszahlungen verpflichtet hätte.» Anders tönt es bei der Swiss, die keine Zahlen liefert. «Wir können diese Frage leider nicht pauschal beantworten, da auch immer der Grund der Flug-Annullation in Betracht gezogen werden müsste, dieser unterscheidet sich von Fall zu Fall.»
Auf die Rückfrage, ob die Swiss eine Liste mit den jeweiligen Gründen zustellen kann, antwortet die Medienstelle: «Aus Ressourcen-Gründen sind wir nicht in der Lage, Ihnen eine Übersicht über die erfolgten Annullationen und ihre jeweiligen Gründe zukommen zu lassen. Eine solche Analyse führen wir nicht standardmässig durch. Sie zu erstellen, braucht Zeit, die unsere Spezialist:innen in der weiterhin anspruchsvollen Lage aktuell jedoch leider nicht haben.»
*(Name der Redaktion bekannt)
180 Flüge * 250 Passagiere * 600€ = 27 Mio Entschädigungsanspruch, welche nicht bezahlt werden.
Es kann nicht sein, dass eine Fluggesellschaft nach Lust und Laune Flüge cancelt, Gepäck verliert und sich verspätet (und die SWISS ist derzeit unglaublich mies im internationalen Vergleich) - und dann sich einfach drückt, Verantwortung dafür zu übernehmen!