Erstmals liegen Zahlen vor, die den Detailhandel einen Monat lang im Lockdown zeigen. Das Bundesamt für Statistik zeigt auf, wie sich die Umsätze im April entwickelt haben. Es ergibt sich ein schauriges Bild.
Doch neue Indikatoren, die laufend Daten in Echtzeit erheben, deuten auf eine rasche Erholung hin. So haben Forscher etwa Daten zum Gebrauch von Bankkarten ausgewertet, wie die NZZ berichtet. Diese Zahlen zeigen eine erstaunlich rasche Erholung. Im Mai könnten die Konsumenten schon wieder gleich viel ausgegeben haben wie letztes Jahr. Teils wird dies fast euphorisch gedeutet: «Der Konsum flammt auf.»
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Kehrt die Kauflaune tatsächlich schneller als erwartet zurück? Es wäre ein Segen. Die Wirtschaft erholt sich schneller, die Arbeitslosigkeit steigt weniger stark. Doch was sagen die Experten zu den neuen hoffnungsvollen Zahlen?
Zunächst zu den April-Zahlen: Der Umsatz ist im Vergleich zum Vorjahr um total 20,6 Prozent eingebrochen. Das ist für sich genommen brutal. Zugleich stellt sich die Frage: Wie konnte die Branche überhaupt in einem Lockdown noch 80 Prozent der Vorjahresumsätze halten? Blickt man hinter den Umsatzverlust der Gesamtbranche, löst sich das vermeintliche Rätsel.
Nahrungsmittel, deren Verkauf nie dem Lockdown unterstand, wurden mehr verkauft. Ein Plus von 4 Prozent bedeutet die höchste Zunahme in einem Aprilmonat seit der Finanzkrise. IT-Geräte laufen gut, der Online-Handel boomt. Alles andere stürzt ab. Es gibt ein Minus von 41 Prozent. Neue Kleider oder Schuhe will kaum mehr jemand kaufen. Die Umsätze sinken um gut 83 Prozent.
Die traurigen April-Zahlen passen zu den ebenso tristen Aussichten für das Gesamtjahr. Das Staatssekretariat für Wirtschaft (Seco) glaubt, dass die privaten Haushalte etwa 7,5 Prozent weniger ausgeben. Diese Zurückhaltung ist ein entscheidender Grund, warum die Wirtschaft um 6,7 Prozent schrumpfen wird.
Die düstere Prognose steht scheinbar im Widerspruch zu den neuen Echtzeit-Indikatoren. Hat das Seco die Widerstandsfähigkeit der Wirtschaft unterschätzt? Das Staatssekretariat hält dagegen. Der in den neuen Indikatoren zu beobachtende Anstieg der Bankkarten-Zahlungen hänge damit zusammen, dass die Leute durch die Krise häufiger mit Karte und weniger mit Bargeld zahlen.
«Um die gesamten Ausgaben abzubilden, bräuchte es auch Informationen über andere Bezahlarten wie Bargeld oder Banküberweisungen», sagt Ronald Indergand, Leiter des Ressorts Konjunktur beim Seco. Die Zahlen zu Bargeldbezügen zeigten für den Mai erst eine schleppende Erholung.
Der Anstieg im Mai ist mit Vorsicht zu geniessen. Es könnten Nachholeffekte sein. Dieser Ansicht ist Claude Maurer, Leiter Konjunkturanalyse Schweiz bei der Credit Suisse: «Viele Leute haben das im Lockdown gesparte Geld in Käufe umgemünzt. Der erste Schritt zur Erholung ging so sehr schnell, der zweite wird harzig verlaufen.» Auch Ronald Indergand geht davon aus, dass die Konsumentenstimmung in naher Zukunft verhalten bis schlecht bleibt. So zeigten etwa die Detailhandelsumsätze in China, dass die Vorkrisenniveaus wohl nicht so schnell wieder erreicht werden.
Ähnlich sieht dies Dagmar Jenni, Geschäftsführerin des Detailhandelsverbands Swiss Retail: «Im Mai haben die Leute gezielte Anschaffungen getätigt. Ob sich im Konsumverhalten Normalität einstellt, werden wir im Juni sehen. So oder so glauben wir, dass wir noch lange nicht nachhaltig auf dem Niveau vor der Krise sein werden.»
Bei der Konjunkturforschungsstelle der ETH Zürich (KOF) geht man zwar tatsächlich davon aus, dass sich der private Konsum schneller erholt als vor ein paar Wochen erwartet. Aber KOF-Direktor Jan-Egbert Sturm schränkt ein: «Eine vollständige Erholung ist noch nicht in Sicht.» So seien beispielsweise die Schweizer deutlich weniger unterwegs als im Januar und Februar. Dazu kommt: Es würden nicht alle Ausgaben nachgeholt, die in den letzten Monaten virusbedingt weggefallen sind.
Wie lange es gehen wird, bis sich das Konsumverhalten wieder einpendelt, wagt niemand der angefragten Experten genau vorherzusagen. Zu vieles ist noch unsicher: Wie entwickeln sich die Fallzahlen? Wie hoch werden Einkommensverluste und die Arbeitslosigkeit? Wann erreichen Innenstädte wieder die Besucherzahlen von vor der Krise?
«Das Konsumverhalten wird wesentlich davon abhängig sein, wie sich die Stimmung und Zuversicht der Leute entwickeln wird», sagt Martin Hotz, Co-Geschäftsführer des Beratungsbüros Fuhrer & Hotz. «Dominiert die Angst vor einem Jobverlust, stellt man nicht zwingende Anschaffungen zurück.»
Besonders herausfordernd wird die nächste Zeit laut Hotz für den Non-Food-Sektor. «Die Lager der Sportgeschäfte, Kleider- oder Schuhläden sind aktuell voll, die Waren müssen raus. Die negative Preisspirale und die Rabattschlachten, die es in diesem Sektor ohnehin schon gibt, dürften dadurch noch mehr angeheizt werden. Der laufende Strukturwandel im Detailhandel wird sich beschleunigen.»