«Wir sind der Widerstand» steht auf den Bannern der organisierten Fussballfans von Flamengo Rio de Janeiro. Sie haben sich an der Copacabana aufgestellt, gegenüber von Anhängern des rechten Präsidenten Jair Bolsonaro. Dazwischen die Polizei. «Nie wieder Diktatur» rufen die einen, «die Pandemie ist eine Farce» die anderen. Als die beiden Gruppen fast aneinander geraten, vertreibt die Polizei die Fans mit Pfefferspray und Tränengas.
Immer wieder haben Bolsonaro-Anhänger in der Covid-19-Pandemie das Oberste Gericht, den Kongress und Anti-Corona-Massnahmen kritisiert. Doch an diesem Sonntag haben sie erstmals Widersacher, genau an dem Tag, an dem Brasilien die Marke von 500 000 Corona-Infizierten durchbricht. Mehr als 30 000 Menschen sind im Zusammenhang mit dem Virus inzwischen gestorben. Auch in São Paulo ertönen diese «neuen Stimmen», wie die Zeitung «O Globo» schreibt.
Die Initiative gehe auf Fussballfans zurück, die für die Demokratie eintreten, und richte sich gegen Bolsonaro. «Wir haben das Gefühl, dass die Pandemie für die Politik nicht das wichtigste Thema ist, nie ist sie die Nachricht des Tages in Brasilien», erklärt der Politikwissenschaftler Mauricio Santoro von der Universität des Bundesstaates Rio de Janeiro im Gespräch mit der Deutschen Presse-Agentur den Protest. «Es geht immer um unsere politische Krise, die Konflikte des Präsidenten.»
Dabei ist Brasilien auf dem Weg, das neue Epizentrum der Pandemie zu werden. Wissenschaftliche Studien legen nahe, dass die Zahl der Infizierten mindestens sieben Mal höher ist als bislang bekannt. Die Krankenhäuser stossen vielerorts an ihre Grenzen. Und die Situation könnte sich noch verschärfen. «Wir sehen eine Explosion der Fälle, und wir wissen nicht, wo das enden wird», sagt der Epidemiologe Diego Ricardo Xavier von der Oswaldo Cruz Foundation in Rio der dpa.
Zumal wichtige Bundesstaaten wie Rio de Janeiro und São Paulo Lockerungen der Anti-Corona-Massnahmen ankündigten. Da Bolsonaro keine Massnahmen zur Eindämmung hatte treffen wollen, übertrug das Oberste Gericht den Bundesstaaten und Gemeinden die Kompetenzen. So gelten im grössten Land Lateinamerikas in fast jeder Stadt andere Regeln. Aber das öffentliche Gesundheitssystem ist in Netzwerken organisiert, die mehrere Städte umfassen.
Es mangele an Organisation und Führung, sagt Xavier. Zudem halten vor allem Bürgermeister kleiner Städte und Gemeinden dem Druck der Wirtschaft nicht mehr stand. Finanzielle Hilfe des Staates bleibt aus oder kommt kaum an. Geschäfte und Einkaufszentren öffnen, während das Land auf den Höhepunkt der Pandemie zusteuert. «Ich bin sehr besorgt wegen des Szenariums, das wir vor uns haben», sagt Xavier. «Die Krankheit erreicht Orte, in denen notwendige Strukturen fehlen, und die Krankenhäuser in den Städten sind schon voll.»
Präsident Bolsonaro löste jüngst bei einem Imbissbesuch in der Nähe von Brasília Menschenansammlungen aus, die Atemmaske lag dabei auf seiner Schulter. Zu Beginn hatte er das Coronavirus als «kleine Grippe» verharmlost und damit in der Bevölkerung Chaos und Verwirrung über die Schwere der Krankheit gestiftet.
Wie wenig ernst viele Brasilianer das Virus nehmen, zeigte sich etwa in der Stadt Belém, als am ersten Tag des Lockdowns der traditionelle Markt voll war. In São Paulo hatten die Menschen um Christi Himmelfahrt als Anti-Corona-Massnahme von Mittwoch bis Montag frei - die Reichen fuhren ans Meer, Favela-Bewohner gingen in die Bars, auch weil sie es in ihren ärmlichen Behausungen nicht mehr aushielten.
In der Favela Rocinha in Rio funktionierte der Lockdown mit Ausgangsbeschränkungen, weil die Drogengang die Sache in die Hand nahm. «Wer aus dem Haus geht, bekommt eine Kugel in den Kopf», drohte die Bande, wie ein Bewohner schilderte. Die Drohungen wirkten. Im Verlauf der Pandemie ist Bolsonaro bereits beim dritten Gesundheitsminister angekommen - einem, der dem Einsatz des umstrittenen Malariamittels Cloroquin zustimmt. Ein Video aus einer Kabinettssitzung machte jüngst ohnehin klar, dass den Präsidenten der Schutz seiner Söhne vor Ermittlungen der Bundespolizei mehr beschäftigt als der Schutz der Bevölkerung vor Corona. Bildungsminister Abraham Weintraub bezeichnete die Richter des Obersten Gerichts darin als «Penner», die hinter Gitter gehörten.
Die Ablehnung des Präsidenten ist nach einer Umfrage mit 43 Prozent nun so gross wie noch nie, seine Basis bleibt aber mit 33 Prozent stabil. Bolsonaro spekuliert darauf, als Sieger aus der Pandemie hervorzugehen. Denn nicht er, sondern die Gouverneure haben die strengen Massnahmen erlassen. Und die Wirtschaft liegt darnieder.
Doch nun formiert sich zunehmend Widerstand. Was mit Töpfeschlagen aus Unmut über den Umgang des Präsidenten mit Corona begann, hat sich zu einer breiten Demokratie-Bewegung ausgewachsen. Fast 200 000 Unterschriften erreichte das Manifest «Estamos #Juntos» (Wir stehen zusammen) bis Montag. Das Spektrum der Unterzeichner reicht vom kommunistischen Gouverneur bis zu einem ehemaligen Bolsonaro-Unterstützer. Sie berufen sich darauf, mehr als zwei Drittel der Bevölkerung zu repräsentieren. Eine andere Bewegung, die am Wochenende die Nachrichten in Brasilien bestimmte, nennt sich sogar «Somos 70 porcento» (Wir sind 70 Prozent). Auf der Strasse, sagt Politik-Wissenschaftler Santoro, komme eine starke Empörung zum Ausdruck, Frust und Wut auf die Regierung. Für kommenden Sonntag haben die Fussballfans die nächste Demonstration angekündigt. (cki/sda/dpa)
33% - das muss man sich geben. Gut, Gewinnler mögen an Jair B. festhalten, einige Verblendete auch und möglicherweise auch einfache Gemüter.
Aber 33%? Hatten wir in Europa auch schon (mehrfach), klar. Kann mir bitte, irgendwer erklären, wie das passieren kann? Es ist sogar mir zu billig, 33% pauschal als Dumm und / oder Gewinnler zu sehen...