Weil sich Felsbrocken lösten, stürzten Ende Juli an der Ostflanke des Matterhorns ein Chilene und sein Begleiter 800 Meter in die Tiefe. Eine fix montierte Sicherungsstange war abgebrochen. Das hatte es zuvor noch nie gegeben. Normalerweise sind diese Verankerungen zu 100 Prozent zuverlässig. Es tut sich was am Matterhorn.
Was kaum jemand weiss: Forscher der ETH Zürich beobachten unter dem Projektnamen «Permasense» seit über zehn Jahren jede Regung der Gesteinsmassen am berühmtesten Berg der Schweiz. An 29 verschiedenen Stellen montierte Sensoren übermitteln Echtzeitdaten direkt ins ETH-Rechenzentrum. Ziel der Forscher ist, Felsabbrüche besser voraussehen zu können. Inzwischen ist ein Datensatz mit 115 Millionen Einträgen entstanden, wie die ETH am Dienstag mitteilte.
Seit 15 Jahren führt Christian Buchmann (49) Bergsteiger aufs Matterhorn. Der Präsident des Bergführervereins Zermatt redet Klartext: «Die Felsen werden immer brüchiger. Dieses Phänomen ist ein Fakt», sagt der Walliser zu watson.
An den Hitzetagen müsse man darum vermehrt mit Steinschlag rechnen und dementsprechend die Routen anpassen. «Als ich im Juli über den Hörnligrad des Matterhorns kletterte, waren es dort gegen 20 Grad. Die Felsen waren richtig warm.»
Die heissen Sommer veränderten die Arbeit der Bergführer. Auf den Gletschern schmelze etwa der Schnee viel schneller. «Dadurch hat es viel mehr Spalten, wir müssen Umwege laufen und insgesamt auf der Tour noch mehr aufpassen», so Buchmann.
Im Hitzesommer 2003 brachen am Hörnligrat Felsmassen so schwer wie vier Einfamilienhäuser ab. 2019 ist die Nullgradgrenze im Juli zeitweise auf über 5000 Meter angestiegen. «Durch die rasche Schneeschmelze ist viel Wasser in die Felsen eingedrungen und liess dort den Permafrost verstärkt schmelzen», sagt ETH-Wissenschaftler Jan Beutel zu den Tamedia-Zeitungen. Felsen, Erde und Schutt, die normalerweise ganzjährig gefroren sind, tauen auf. Der Fels bröckelt weiter und gefährdet die Bergsteiger. Die Folgen seien aber noch nicht abschliessend zu beurteilen, heisst es von den ETH-Forschern.
Die Datenauswertung hat weiter ergeben, dass sich der Hörnligrat – eine der Hauptkletterrouten – jährlich um 2 cm talwärts Richtung Zermatt neigt. Warum sich der Grat bewegt, ist aber noch unklar. Die Klimaerwärmung sorge dafür, dass immer mehr Felsen zu Tal donnern. «Der Permafrost wird dadurch langsam, aber stetig zurückgedrängt. Zuerst an den Südflanken und dann später an den Nordseiten», so Beutel weiter.
Bröckelt bald die Spitze des Matterhorns ab? Der Berg werde seine einzigartige Form irgendwann verlieren. «Das dauert aber noch lange», so der ETH-Forscher. Doch schon in 100 Jahren würden die Gletscher an den Flanken des Matterhorns grösstenteils verschwunden sein.
Bergführer-Präsident Buchmann fordert ein Umdenken. Wegen der Klimaerwärmung müsse die Klettersaison am Matterhorn angepasst werden. An Hitzetagen sollte man künftig Ausweichtouren anbieten und etwa in Klettergärten statt am Matterhorn klettern . Es dürfe nicht mehr sein, dass der grösste Bergsteiger-Andrang am «Horu» auf Anfang August falle. Dann wenn es normalerweise am heissesten sei.
Die Klettersaison am Matterhorn dauert eigentlich von Mitte Juni bis Mitte September. «In den letzten Jahren hatten wir Anfang Juni aber schon beste Verhältnisse. Die Saison verschiebt sich zusehends», so der Walliser Bergexperte weiter.
Erhöhte Steinschlaggefahr hin oder her: Die Anzahl der Unfälle am «Horu» ist in der Sommersaison (Juni-September) stabil, wie Nachforschungen von watson zeigen.
Mit bislang 11 Rettungseinsätzen (Stand 13. August) ist es 2019 vergleichsweise ruhig. Anjan Truffer, Rettungschef Air Zermatt, erklärt: «Diesen Sommer gab es mehrere Schlechtwetterperioden. Dadurch stiegen weniger Bergsteiger zum Matterhorn auf.»
Im Sommer 2019 wurden am «Horu» bislang 7 Todesfälle gezählt. Auch dieser Wert liegt laut Truffer unter dem Durchschnitt.
«Das Matterhorn soll gesperrt werden»: Mit diesem Titel sorgte die «Sonntagszeitung» im Juli schweizweit für Schlagzeilen. «Das ist ein völliger Blödsinn. Wir leben in der Schweiz in einem freien Land, wo man nicht einfach Berge sperren kann», sagt Buchmann. In Bergführerkreisen sei man längst auf die erhöhte Steinschlaggefahr sensibilisiert, das würde auch in den Weiterbildungskursen thematisiert. Jeder Bergsteiger trage am Schluss eine Eigenverantwortung.
Der Unfall und die Medienberichte hätten aber keine Auswirkungen auf die Touren. «Wir haben keine Stornierungen erhalten.»
Das Matterhorn richtet sich immer nach dem politischen Befinden der Schweiz.