Wenn Wanderinnen und Wanderer die Alpe Nanztal passieren, hoch über Visp im Kanton Wallis, drehen sich zahlreiche schwarze Gesichtchen in ihre Richtung. Die Gesichtchen von Walliser Schwarznasenschafen. Die Tiere wollen wissen, was auf ihrer Alp los ist. Schätzen ab, ob von den Fremden Gefahr ausgeht. Oder ob es bei ihnen etwas zu holen gibt.
Wenn Schäfer Oliver Gottsponer in der Nähe ist, gibt es normalerweise etwas zu holen. Die Schafe erkennen ihn schon von Weitem. Und sie erkennen auch durch die dicke Wolle hindurch, die ihre Augen verdeckt, ob er einen weissen Sack trägt. So wie an diesem Morgen. Denn das bedeutet: Futter.
Gottsponer läuft über die Alp und verteilt da und dort Hafer auf dem Boden. Die Schwarznasenschafe rennen ihm aufgeregt blökend entgegen und tummeln sich gleichermassen um den Hafer, Gottsponer und jeden anderen Menschen, der sich gerade in der Nähe aufhält.
Sie schnuppern an Schuhen, Hosen, Jacken, nehmen einen «Schläck» vom Rucksack, knabbern an Reissverschlüssen. Manche stupsen sanft, aber fordernd mit ihren Nasen gegen Bauch und Hüften, ohne das Gegenüber dabei mit ihren spitzen, gewundenen Hörnern zu berühren.
Umzingelt von Schafen tätschelt Gottsponer da und dort einen Rücken, krault hinter Ohren, streicht über feine, schwarze Nasenrücken. Er sagt:
Es gebe schüchterne, wilde, mutige, freche und auch ganz zahme, zutrauliche Tiere. «Nur gwundrig sind sie alle», sagt Gottsponer.
Würde er sich auf einen Felsen setzen, würde früher oder später ein Schaf zu ihm kommen und Streicheleinheiten einfordern. Genau das gefällt ihm so sehr an den Schwarznasenschafen. Ihr Wesen.
Seine ersten beiden Schwarznasenschafe erhielt Gottsponer zu seinem 12. Geburtstag von seinem Vater, ebenfalls ein Schäfer. Das war vor zehn Jahren.
Inzwischen besitzt Gottsponer 25 Schwarznasenschafe und ist jeden Sommer als Alpchef für insgesamt 350 verantwortlich. Das heisst: Jeden Sommer vertrauen ihm elf Schäfer ihre Schwarznasenschafe an. «Für einen Schäfer allein wäre es sonst gar nicht möglich, die Schafe auf der Alp rund um die Uhr zu betreuen», sagt Gottsponer.
Schwarznasenschafe zu halten, das sei kein Beruf, sondern ein Hobby. Ein zeitintensives, leidenschaftliches, aber inzwischen leider immer öfter emotional belastendes. Der Grund: Im Wallis geht der Wolf um.
Der August 2022 hat sich in Gottsponers Gedächtnis eingebrannt. Der Wolf hatte seinen Weg auf die Alpe Nanztal und zur Herde gefunden. 35 Schwarznasenschafe erlagen ihm. In nur einer einzigen Nacht.
Gottsponers Gesicht verhärtet sich, wenn er daran zurückdenkt. Unter den getöteten Schafen befand sich auch eines von ihm. Er sagt nur so viel:
Nach der verhängnisvollen Nacht erhielten die Schäfer von Bund und Kanton pro gerissenes Schwarznasenschaf 200 bis 300 Franken. Dieser Betrag soll die Schäfer dafür entschädigen, dass sie die Schafe nicht mehr schlachten und ihr Fleisch verkaufen können. Etwas, was Gottsponer und die anderen Schäfer mit ihren Zuchttieren gar nicht tun. Für sie sind sie nicht Nutz-, sondern Haustiere.
Gottsponer hält Schwarznasenschafe, weil er sie gernhat. Er kann jedes beim Namen nennen, hat zahlreiche von ihnen bei der Geburt begleitet, hat die besonders zahmen und hübschen unter ihnen schon einshampooniert, gekämmt und frisiert, um mit ihnen an Viehschauen teilzunehmen, verbringt den Grossteil seiner Sommer allein mit ihnen in den Bergen. Ein Leben ohne seine Schwarznasenschafe kann er sich nicht vorstellen.
Geld könne den Schmerz über den Tod eines geliebten Tiers nicht aufwiegen, sagt Gottsponer. Und fügt an:
Für Gottsponer fühlt es sich darum an wie blanker Hohn, wenn Medien und Umweltverbände über jeden einzelnen Wolf berichten, den Jäger erlegten. «Was ist mit den gerissenen Tieren? Über die spricht nie jemand!»
Gottsponer ist nicht wütend auf den Wolf, der 2022 sein Schwarznasenschaf getötet hat. Er sagt ganz nüchtern:
Wütend ist Gottsponer auf die Behörden, die zuwarten. Per 1. September hat die Jagdsaison begonnen. Der Kanton Wallis hat vom Bundesamt für Umwelt (BAFU) die Bewilligung erhalten, das Nanz-Rudel zu schiessen. Eine gute Nachricht für Gottsponer. Aber nicht gut genug. Die Sorge um seine Schafe bleibt.
Im Kanton Wallis leben gemäss Schätzungen 90 bis 120 Wölfe und elf Rudel. Die Eliminierung zweier weiterer Rudel hat das BAFU abgelehnt, den Abschuss des Les-Toules-Rudels nur unter Auflagen bewilligt. «Es bleiben also zehn Rudel, die wieder viele Nachkommen generieren werden, was den Wolfsbestand im Wallis weiter exponentiell wachsen lässt», sagt Gottsponer.
Doch in der Schweiz tut man sich schwer mit Wolfsabschüssen. Das zeigte die Debatte, die Bundesrat Albert Rösti Ende 2023 entfachte, indem er die Jagdschutzverordnung revidierte. Per 1. Dezember 2023 eröffnete er damit die präventive Jagd auf ganze Wolfsrudel.
Nur 13 Tage nach Inkrafttreten hatte der Kanton Wallis bereits zehn Wölfe getötet. Doch dann legten Umweltverbände Beschwerde beim Bundesverwaltungsgericht ein. Dieses verhängte einen sofortigen Abschuss-Stopp.
Seither konnten die Wölfe im Kanton Wallis wieder 246 Nutztiere reissen (Stand: 10.09.2024). Die meisten davon waren Schafe. Gemäss dem kantonalen Monitoring riss der Wolf einen Grossteil von ihnen in der Nähe von Oliver Gottsponers Alp.
Einer der Umweltverbände, die sich gegen präventiven Wolfsabschüsse einsetzen, ist die Gruppe Wolf Schweiz. Sie plädiert darauf, dass zuerst der Herdenschutz angemessen umgesetzt werden muss, bevor man den Wolf, eine geschützte und einst in der Schweiz ausgerottete Tierart, reguliert.
Das hat Gottsponer seiner Meinung nach getan. Seit dem Wolfsriss 2022 haben er und die anderen elf Schäfer 45'000 Franken investiert, um die Alp mit einem elektrischen, wolfssicheren Zaun abzuriegeln. Für den Strom musste ein Solarpanel her. Bund und Kanton übernahmen 80 Prozent der Kosten.
Doch Herdenschutz bedeutet nicht nur Investitionen, sondern auch mehr Arbeit. Zusammen mit den anderen Schäfern und Freiwilligen muss Gottsponer jeden Frühling elf Kilometer Elektrozaun aufstellen und Ende des Sommers wieder abbauen. Während die Schwarznasenschafe auf der Alp weilen, läuft er den Zaun jeden Tag ab und beseitigt allfällige Schäden.
Diese Zeit und Mühe investiert er gerne, solange er weiss, dass er seine Schafe auf diese Weise schützen kann. Doch genau da liege das Problem:
Trotz des Zauns gelang es dem Wolf diesen August, ein Lamm zu reissen. Gottsponer greift deshalb nun auf die Arbeit des gemeinnützigen Vereins Oppal zurück. Er vermittelt Freiwillige, die auf der Alp Nachtwache halten.
Mit Wärmebildkameras halten sie nach dem Wolf Ausschau. Entdecken sie ihn, versuchen sie, ihn mit Licht und Lärm zu vertreiben. Das gelang bisher. Die Unsicherheit aber bleibt. Auch tagsüber sei es schon zu Wolfsrissen in der Region gekommen, so Gottsponer.
Könnten Herdenschutzhunde nicht Abhilfe schaffen? «Das ist hier oben keine Option.» Für 350 Schafe würde man mindestens sieben Hunde brauchen. Diese Hunde müsse man trainieren, sich auch den Rest des Jahres angemessen um sie kümmern. «Das ist extrem viel Arbeit, für die viele einfach keine Zeit haben.»
Und was ist mit anderen Herdenschutztieren? Eseln, Alpakas, Lamas? Gottsponer zückt als Antwort nur sein Handy und zeigt ein Foto, das kürzlich auf der Alp auf der anderen Seite des Bergs aufgenommen worden ist. Darauf zu sehen: ein Esel ohne Kopf. Er liegt seitlich auf dem Boden. Die Gedärme quellen aus seinem Bauch. Die Wiese ist blutig. Gottsponer kommentiert:
Die Schäfer nebenan hätten sich Esel als Herdenschutztiere geholt, weil ein Wolfsrudel diesen Sommer schon einige ihrer Schwarznasenschafe gerissen habe. «Wie man sieht, hat diese Schutzmassnahme nichts genützt.» Auch Alpakas und Lamas habe der Wolf schon gerissen. Sie taugten also ebenfalls nicht als Herdenschutztiere.
Die Angst um seine geliebten Schwarznasenschafe hält Gottsponer manchmal nächtelang wach. Sie ist zu einer Dauerbelastung geworden. So geht es nicht nur ihm.
Seitdem der Wolf im Wallis für Unruhe sorgt, hört Gottsponer immer häufiger, wie Schäfer laut darüber nachdenken, das Handtuch zu werfen. Viele kämen nicht nur mit der Mehrarbeit nicht mehr klar, sondern vor allem auch mit der emotionalen Belastung.
Das bereitet Gottsponer Sorgen. Nicht nur weil das Walliser Schwarznasenschaf in der Vergangenheit bereits mehrmals vom Aussterben bedroht gewesen ist. Auch wegen der Biodiversität. Er sagt:
Gemäss mündlichen Überlieferungen gibt es das Schwarznasenschaf bereits seit dem 15. Jahrhundert. Die Rasse ist optimal für die rauen Bedingungen in den Walliser Bergen gemacht. Ohne sie würde der Boden früher oder später von Borstgräsern und Büschen überwuchert, so Gottsponer. Damit würde sich nicht nur die Lawinengefahr erhöhen, auch zahlreiche Tier- und Pflanzenarten würden ihren Lebensraum verlieren.
Tatsächlich, bei genauem Hinhören merkt man, dass es auf der Alpe Nanztal überall brummt, summt, zirpt und flattert. Murmeltiere huschen über Felsen. Heugümper und Frösche hüpfen davon. Der Boden ist bunt überwachsen mit Blumen, Gräsern, Moosen, Pilzen.
«Es gibt kein Wildtier, das die Aufgabe der Schwarznasenschafe in den Alpen übernehmen könnte», sagt Gottsponer. Zu lange schon seien der Mensch und seine Tiere Teil des natürlichen Gleichgewichts.
Dass man das aufs Spiel setzen will, indem man den Wolf nicht angemessen reguliert, kann Gottsponer nicht verstehen. «Jedes andere Wildtier wird in der Schweiz reguliert.» Aber ausgerechnet beim Wolf, einem Tier, dessen Bestand jedes Jahr um 30 Prozent grösser werde und das in der Schweiz keine natürlichen Feinde habe, würden die Behörden zuwarten.
Das Ausmass dieses Abwartens bekämen die meisten Schweizerinnen und Schweizer nicht zu spüren. Er und seine geliebten Schwarznasenschafe hingegen schon. Hautnah.
Es ist ihr Hobby Schafe zu halten und nicht ihr Beruf.
Die 35 Tiere wurden vor zwei Jahren getötet als es keinerlei Herdenschutz gab. Seit der Installation des Zauns kam nur noch ein Schaf durch den Wolf um.
Herdenschutzhunde wären wohl effektiver aber zu aufwändig um die über alles geliebten Schafe zu schützen.
Es gibt freiwillige, welche erfolgreich die Arbeit machen, welche den Schafhaltern zu aufwändig ist.
Der Bund hat für 11 Schäfer knapp 40k investiert für den Zaun also rund 4k je Hobbytierhalter.
Und deshalb sollen die Wölfe weg?
Das sollte man als Schäfer eigentlich wissen. Weshalb kriegen es denn z.B. die Italiener, Türken oder Rumänien auf die Reihe, die Verluste durch Wolfsangriffe bei geschützt Herden auf nahezu null zu drücken?