Die Kantonsratswahlen in Zürich haben eine deutliche Verliererin. Die Grüne büsst fast 1,5 Prozentpunkte ein und verliert drei Sitze. Sucht man jedoch nach der Gewinnerin, muss man genauer hinschauen. Von den grossen Parteien konnten zwar einige zulegen, jedoch hält sich das Wachstum in Grenzen. Am stärksten schnitt die SVP ab, die sich über ein Plus von 0,45 Prozentpunkten freuen darf.
Es gibt jedoch eine Partei, die noch deutlich mehr Wähleranteile gewonnen hat – und bis Sonntag dürfte diese nur den wenigsten bekannt gewesen sein. Die Rede ist von «Aufrecht». Der neue Akteur bezeichnet sich als «politischer Verein» und konnte auf Anhieb 2,15 Prozent der Wähler überzeugen.
«Wir sind natürlich sehr zufrieden», sagt der Präsident Patrick Jetzer im Gespräch mit watson. Nur dass es aufgrund der 3-Prozent-Hürde nicht für einen Sitz gereicht hat, ärgert ihn ein wenig. Doch was hat es mit dem «Wahlgewinner» auf sich?
Auf der Webseite von «Aufrecht» heisst es: «Der Verein Aufrecht Schweiz besteht aus Vertretern verschiedener Bürgerrechtsorganisationen, welche sich seit dem Frühling 2020 gebildet haben.» Sprich: Hinter der Bewegung stehen Corona-Massnahmengegner.
«Unsere Herkunft ist klar, die leugnen wir nicht», sagt Jetzer. Man habe Mitglieder, die etwa bei «Aletheia» oder «Freunde der Verfassung» aktiv gewesen seien oder dies immer noch seien. «Aber wir wollen nicht nur eine Massnahmengegner-Partei sein», meint der Dübendorfer. So würden sie sich für weniger Steuern, mehr Wettbewerb im Bildungsbereich, mehr Wahlfreiheit im Gesundheitsbereich und die Wahrung der Neutralität einsetzen.
Wenn «Aufrecht» so viel gewonnen hat und die Grünen so deutlich verloren haben, stellt sich die Frage, ob ein Teil der Grünen-Wähler ins Lager der Corona-Skeptiker abgewandert ist.
Denn die Wähler der Grünen zeigten sich innerhalb des linken Lagers als vergleichsweise skeptisch, was zum Beispiel die Corona-Impfung angeht. Das Vertrauen in die Regierung war während der Pandemie relativ gering. Vergangenen Februar beurteilten in einer Sotomo-Umfrage nur die SVP-Wähler die Arbeit des Bundesrates schlechter als die Grünen-Wähler.
«Wir hatten auf der Strasse immer wieder Gespräche mit Leuten, die meinten, die Grünen seien für sie nicht mehr wählbar, da die Partei die Massnahmen während der Pandemie mitgetragen habe», sagt Thomas Forrer, Fraktionspräsident der Grünen im Kanton Zürich. «Es ist kein einfaches Thema, es gibt bei den Grünen-Wählern Leute, die kritisch gegenüber der Schulmedizin und den Pharmakonzernen sind.»
Gemäss Forrer gibt es einen weiteren Hinweis auf eine mögliche Wählerwanderung in Richtung Corona-Skeptiker. «Im Wahlkreis Winterthur-Land hat ‹Aufrecht› ein gutes Resultat erzielt und unser Kandidat Ralf Hablützel konnte den Sitz der Grünen nicht halten.» Für «Aufrecht» ging der Tösstaler Impfskeptiker und Biobauer Urs Hans ins Rennen, der 2019 noch für die Grünen politisierte und in den Kantonsrat gewählt wurde.
«Ich kann die Befürchtungen der Grünen verstehen, dass ein Teil der Wähler zu ‹Aufrecht› abgewandert ist», sagt Lukas Golder, Co-Leiter des gfs.bern, zu watson. «Allerdings gehe ich davon aus, dass die Grünen eher Wähler an die GLP und die SP verloren haben.» Noch im Jahr 2019 seien viele SP-Wähler zu den Grünen gewandert.
Der Politologe glaubt, dass «Aufrecht» viele Neuwähler hat mobilisieren können. «Leute, die während der Pandemie politisiert wurden.» Von den 2,15 Prozent, die «Aufrecht» geholt habe, seien wohl höchstens 0,5 Prozent ehemals linke Wähler, schätzt Golder. Er verortet die Skepsisbewegung eher rechtsaussen.
«Der Erfolg von ‹Aufrecht› ist eine grosse Überraschung», sagt Golder. Gewisse Massnahmengegner hätten es auch schon in anderen Kantonen probiert, dabei seien sie aber nie über ein paar Promille Wähleranteil gekommen.
Dies sei auch im Hinblick auf die nationalen Wahlen im Herbst interessant, meint Golder. «In den grossen Kantonen ist es mit einem Wähleranteil im niedrigen Prozentbereich möglich, in den Nationalrat einzuziehen.» Der Erfolg in Zürich sei für die Bewegung sicher ein Motivator, sich für die Nationalratswahlen zu positionieren.
Dem kann Patrick Jetzter nur beipflichten. «Die nationalen Wahlen von 2023 sind unser Kernanliegen», meint der Präsident von «Aufrecht». In Zürich, Thurgau, St.Gallen, Bern und Aargau seien vielversprechende Kandidaturen im Aufbau. Mit Jetzer oder einem anderen Kandidaten könnte also schon bald der erste Politiker von «Aufrecht» ins nationale Parlament einziehen. «Falls ich gewählt werde, werde ich sicher nicht ablehnen», meint Jetzer kampflustig.