Die gesamte Schweizer Nati überzeugte beim Achtelfinal-Sieg gegen Frankreich mit einer starken Teamleistung. 17 Spieler kamen zum Einsatz, so viele wie noch nie in einem Pflichtspiel der Schweiz. Nahezu alle zeigten eine sehr gute Leistung und überzeugten mit Einsatz und Willensstärke. Dennoch stachen vier Spieler und ihr Trainer aus dem starken Gefüge noch heraus – besonders Granit Xhaka, Haris Seferovic und Vladimir Petkovic konnten es ihren Kritikern zeigen.
Nach dem 0:3 gegen Italien schien die EM für die Schweizer Nationalmannschaft vorbei zu sein, wenn man dem Glauben schenkte, was man in den Medien und den Kommentarspalten las. Nun steht die Nati zum ersten Mal überhaupt in einem EM-Viertelfinal und darf sich wohl als die beste Mannschaft bezeichnen, die das Land bis anhin an einem grossen Turnier vertreten hat.
Bereits vor dem Beginn der Europameisterschaft prasselte wegen des Besuchs eines Tattoo-Studios viel Kritik auf den Nati-Captain ein. Diese wurde nach dem Blondieren seiner Haare und der schwachen Leistung gegen Italien noch einmal lauter. Nun dürfte der 28-Jährige, der auch bei Arsenal schon öfters als Sündenbock herhalten musste, seine Kritiker erstmal zum Schweigen gebracht haben.
Granit Xhaka's game by numbers for #SUI vs. #FRA:
— Squawka Football (@Squawka) June 28, 2021
92% passing accuracy
17 final ⅓ entries
8/8 long balls
5 ball recoveries
3 chances created
3 fouls won
3 interceptions
2/2 through-balls
2 aerials won
2 clearances
1 block
1 assist
Simply sensational. pic.twitter.com/Ae8uV2ROvj
Auf den überzeugenden Auftritt gegen die Türkei folgte im Achtelfinal gegen Frankreich eine Leistung für die Geschichtsbücher. Xhaka zeigte das, was ihn zum bisher teuersten Schweizer Fussballer machte. Viele Fans bezeichneten seine Performance als eine der besten in der Geschichte der Europameisterschaften. Der Schweizer dominierte ein Mittelfeld, in dem ihm mit Paul Pogba und N'Golo Kanté zwei der besten Akteure auf dieser Position gegenüberstanden. So wurde er auch verdientermassen zum «Star of the Match» gekürt.
Xhaka spielte die meisten Vorwärtspässe aller Spieler auf dem Platz, setzte damit seine Mitspieler hervorragend in Szene, kreierte Chancen und gab die Vorlage zum Ausgleich in der 90. Minute – und all das, ohne die defensiven Aufgaben zu vernachlässigen. Der Mittelfeldspieler eroberte Bälle, störte die Gegner beim Passspiel und ging als Leader voran. Dazu gehörte auch die Entscheidung, nicht zum Elfmeterschiessen anzutreten, weil er kein gutes Gefühl hatte.
Nach diesem Spiel ist jegliche Kritik am Basler unangebracht – auch wenn er sich im Interview nach dem Sieg erneut zu einer mutigen und provokanten Aussage hinreissen liess. Xhaka, der wohl bald zur AS Roma wechselt, ist einer der Hauptgründe dafür, dass die Schweizer Nati zum ersten Mal seit 1938 ein K.o.-Spiel an einem grossen Turnier gewonnen hat. Im Viertelfinal gegen Spanien wird er aber gesperrt fehlen.
Fans are calling Xhaka's performance vs France one of the all-time best in European Championship history and it's hard to argue with that statement! 👏
— SPORTbible (@sportbible) June 29, 2021
The Swiss midfielder dominated last night, despite coming up against N'Golo Kante and Paul Pogba 🔥 https://t.co/8b7llMFqiy
Die Karriere von Haris Seferovic ist das Gegenstück zum geradlinigen Weg an die Spitze. Highlights wie dem U17-Weltmeistertitel 2009 oder dem Last-Minute-Tor gegen Ecuador an der WM 2014 folgten immer wieder Rückschritte und Enttäuschungen. Seit seinem Wechsel zu Benfica Lissabon hat sich der Stürmer aber stetig gesteigert und sich sowohl im Klub als auch in der Nationalmannschaft als Stammspieler festgespielt.
Doch trotz seiner Torgefahr in der portugiesischen Liga wurde Seferovic in seiner Heimat nie richtig ernst genommen und wurde teilweise sogar von den eigenen Fans ausgebuht. Auch der 29-Jährige tat mit seinem Einsatz alles dafür, dass die Schweiz gegen Frankreich siegreich vom Platz geht. Mit einem perfekt platzierten Kopfball eröffnete er das Skore und liess die Schweizer Hoffnungen spät im Spiel wieder aufleben.
Der Mann aus Sursee hat gezeigt, dass er die Zuspiele seiner Teamkollegen verwerten und sich mit seinen 1,89 Metern Körpergrösse auch gegen Weltklasse-Verteidiger wie Raphael Varane im Kopfball-Duell durchsetzen kann. Doch es waren keineswegs nur die beiden Tore, welche die Leistung von Seferovic gegen Frankreich auszeichneten. Der Stürmer war überall in der Offensive zu finden und öffnete seinen Mitspielern auch mit Läufen über die Seiten immer wieder Räume.
Mit drei Toren gehört er zu den besten Torschützen an der EM, nur Cristiano Ronaldo, Karim Benzema und Patrik Schick haben mehr Treffer auf dem Konto. Beim Portugiesen und dem Franzosen kommen keine mehr dazu, Seferovic hingegen könnte seine Bilanz gegen Spanien noch aufbessern.
Seferovic just slapped the shit out of Embolo pic.twitter.com/gJej93D3io
— Luís Mira (@luismmira) June 28, 2021
Die Schweizer Erfolgssträhne an der Europameisterschaft ist untrennbar mit seinem Namen verbunden. Für das dritte Gruppenspiel gegen die Türkei rückte Steven Zuber erstmals an diesem Turnier in die Startelf. Sein Einfluss war direkt zu spüren – der linke Mittelfeldspieler rannte, kämpfte und hatte einen grossen Anteil an beiden Siegen gegen die Türken und Frankreich. Der 29-Jährige bereitete vier Tore vor und führt damit trotz seiner limitierten Spielzeit das Assist-Ranking des Turniers an.
4 - Steven Zuber kommt bei der EURO 2020 bereits auf 4 Assists und stellt damit den Rekord für die meisten Vorlagen bei einem EM-Turnier seit Datenerfassung 1968 ein. Flanke. #EURO2020 #FRASUI @nati_sfv_asf @Eintracht https://t.co/ltVtpl0vR4
— OptaFranz (@OptaFranz) June 28, 2021
Auch im Achtelfinal gegen Frankreich war er einer der auffälligsten Schweizer – auf der linken Seite hatte Benjamin Pavard mehrmals grosse Probleme mit Zuber. Der Bayern-Verteidiger sah gegen seinen Ligakonkurrenten von Eintracht Frankfurt besonders in zwei Szenen sehr alt aus. Bei der Flanke vor dem 1:0 für die Schweiz konnte der Franzose Zuber nicht ausreichend stören und in der zweiten Halbzeit wusste Pavard ihn nur mit einem Foul zu stoppen, das zum Penalty führte. Hätte Rodriguez diesen genutzt, wäre es Zubers fünfte Torbeteiligung an fünf Schweizer Toren in Folge gewesen.
Nach der schwierigen Saison in Frankfurt mit wenig Einsatzzeit in der Rückrunde ist diese EM eine Genugtuung für Steven Zuber. Mit seinem Einsatz und unbändigen Siegeswillen zieht er seine Mitspieler mit und sorgt gefühlt für ein ganz anderes Auftreten der gesamten Mannschaft.
«Irgendwann kommt der Moment, wo du bereit sein musst. Das ist mir gelungen.» Und wie es Yann Sommer gelungen ist. In der dramatischen Schlussphase der Verlängerung rettete der Goalie die Schweiz unter anderem gegen Olivier Girouds Kopfball ins Elfmeterschiessen. Dort wurde der 32-Jährige endgültig zum Helden.
Gegen Weltstar Kylian Mbappé, den mit 160 Millionen Euro Marktwert teuersten Spieler der Welt, hält er den fünften französischen Elfmeter und entscheidet damit das Spiel. Die Schweiz steht im Viertelfinal, nach kurzem Check des Videoassistenten rennt Sommer zur Eckfahne und wird von der gesamten Nationalmannschaft gefeiert.
Es war eine weitere Top-Leistung von der Nummer 1, nachdem er bereits gegen die Türkei mit einigen spektakulären Paraden verhindert hatte, dass die Schweiz noch einmal in Bedrängnis kam. Auch er bekam nicht nur Zuspruch, als er nach dem 0:3 gegen Italien nach Hause reiste, um bei der Geburt seiner Tochter dabei zu sein. Der fehlende Fokus aufs Turnier könnte ein Problem werden, vielleicht sollte man lieber einen Yvon Mvogo oder sogar Gregor Kobel spielen lassen, so der Tenor.
Spätestens nach der Grosstat des Gladbachers sollten jegliche Zweifel an der Qualität des mit 1,83 Metern Körpergrösse eher kleinen Torhüters verflogen sein. Sommer ist seit sieben Jahren der sichere Rückhalt der Schweizer Nati und wie von ihm nach dem Spiel erwähnt: In den wichtigen Momenten war auf ihn meistens Verlass.
Wie einige seiner Spieler stand auch Vladimir Petkovic stark in der Kritik. Zu wenig schien er aus dem eigentlich guten Spielermaterial herauszuholen, zu gross war die Enttäuschung nach den Achtelfinal-Niederlagen an der EM 2016 und an der WM 2018. Wäre die Schweiz in der Vorrunde ausgeschieden, so hätte der Trainer, der in der Öffentlichkeit manchmal etwas stur und beratungsresistent wirkt, wohl seinen Hut nehmen müssen.
Doch Petkovic liess sich davon nicht beirren. Der 57-Jährige hielt an seiner Dreierkette und auch an Ricardo Rodriguez fest. Mit zwei neuen Spielern, Steven Zuber und Silvan Widmer, nahm er kleine Änderungen vor, die grosse Wirkung zeigten. Zuber war gegen die Türkei einer der Matchwinner und auch gegen Frankreich einer der Besten. Widmer machte seine Sache ebenfalls souverän.
Der grösste Coup gelang dem Coach im Achtelfinal aber mit den Einwechslungen: Kevin Mbabu (Vorlage zum 2:3), Mario Gavranovic (Tor zum 3:3) und Christian Fassnacht, der an beiden späten Toren beteiligt war, wurden allesamt eingewechselt und brachten die Wende. Das Spiel gegen Frankreich war auch eine taktische Meisterleistung und dafür muss man Vladimir Petkovic Tribut zollen.
ZDF: „Petkovic ist nicht sehr beliebt in der Schweiz. Und wenn ich diese Mannschaft sehe, frage ich mich, warum eigentlich?“ Experte Sandro Wagner: „Er coacht brutal gut“ #FRASUI
— Renato Beck (@Renato_Beck) June 28, 2021
Das Standing des Trainers im Team und vor allem bei seinem Captain Granit Xhaka sieht man auch daran, dass der Mittelfeldakteur nach der Entscheidung nicht wie alle anderen direkt zur Eckfahne rannte, um zu jubeln, sondern sich erst bei Vladimir Petkovic bedankte und diesen innig umarmte. Die Kritik von aussen scheint die Mannschaft zusammengeschweisst zu haben. Der Übungsleiter, der 2014 von Ottmar Hitzfeld übernahm, sagt zu dem Erfolg: «Wir haben Besonderes erreicht und wollen noch mehr.»
🎉 Jubilation! 🇨🇭
— UEFA EURO 2020 (@EURO2020) June 29, 2021
Switzerland = first-ever EURO knockout win ✅@nati_sfv_asf | #EURO2020 pic.twitter.com/SNPv4PHlyH
Und was eigentlich für eine Maschine zwischen unseren Pfosten steht ist unfassbar.
Was Sommer abliefert ist hammer...