An der WM 2019 fegten die späteren Weltmeisterinnen aus den USA die Thailänderinnen gleich mit 13:0 vom Platz, an der WM 2015 gewannen die Schweizerinnen – die nicht einmal zu den Topteams gehörten – 10:1 gegen Ecuador und an der WM 2007 reisten die Argentinierinnen mit einem Torverhältnis von 1:18 nach Hause. An ein solch ausgeprägtes Ungleichgewicht an Grossanlässen hat man sich im Frauenfussball bereits gewöhnt.
Die Ankündigung, dass die Fussball-WM der Frauen 2023 auf 32 Teams erweitert wird, stiess deshalb nicht überall auf Zustimmung – es wurde befürchtet, dass mehr Teilnehmerinnen die unausgewogenen Kräfteverhältnisse noch verstärken könnten. Der bisherige Turnierverlauf hat diese Befürchtungen jedoch nicht bestätigt, mehr noch, er hat aufgezeigt, dass sogar ein gegenteiliger Trend erkennbar ist.
Die Lücke zwischen den grossen Fussballnationen und den «Fussballzwergen» ist kleiner geworden. Mit Nigeria, Jamaika, Südafrika und Marokko haben vier klare Aussenseiterinnen die Gruppenphase überstanden, auf Kosten von Kanada, Brasilien, Italien und Deutschland, die sich von diesem Turnier im Vorfeld mehr erhofft hatten.
Für die ganz grossen Titelfavoritinnen aus den USA war im Achtelfinal Schluss. Mit Schweden trafen sie zwar auf Gegnerinnen auf Augenhöhe, dass es bereits so früh im Turnier zu diesem Topspiel kam, hatten sich die Amerikanerinnen aber selbst zuzuschreiben. Gegen Portugal trennten sie sich 1:1 und verloren Punkte gegen ein Team, das auf dem Papier eigentlich klar schwächer einzustufen ist. Und auch die Nigerianerinnen schrammten nur haarscharf an der Sensation vorbei – erst im Penaltyschiessen konnten die Europameisterinnen aus England den Kopf aus der Schlinge ziehen.
Alen Stajcic, der Coach der Philippinerinnen, die gegen Neuseeland ihren ersten Sieg an einem Grossturnier feiern konnten, sieht die Kräfteverhältnisse im Frauenfussball ausgeglichener als auch schon. Gegenüber Reuters führt er aus: «Wir sind nun an einem Punkt, an dem wir uns so weit verbessert haben, dass wir auf das Spielfeld gehen und an den Sieg glauben.»
FIFA-Oberhaupt Gianni Infantino begründete die Aufstockung der Teams auf 32 Nationen damit, dass die jeweiligen Länder mehr in den Frauenfussball investierten, wenn sie eine grössere Chance hätten, an einer WM teilzunehmen. Folglich müsse die FIFA «in der Zwischenzeit in allen Konföderationen die nötigen Voraussetzungen schaffen und die Infrastruktur zur Förderung des Frauenfussballs ausbauen», so Infantino. Lorne Donaldson, der Trainer der überraschenden Jamaikanerinnen, die sowohl Frankreich als auch Brasilien ein Unentschieden abtrotzen konnten, sieht auf der Karibikinsel im Frauenfussball tatsächlich einen Aufwärtstrend. Die Ernährung, das Coaching, das physische Training, das alles habe sich auch bei kleineren Fussballnationen in den letzten Jahren verbessert.
Dass Infantinos Logik aber nur teilweise Sinn macht, zeigt beispielsweise ein Blick nach Südafrika, wo die Frauen der Banyana Banyana oftmals besser abschneiden als ihre männlichen Kollegen, für ihre Leistung aber nach wie vor weniger Geld und weniger Infrastruktur herausschaut. Das Jamaikanische Team stand wegen mangelnder Unterstützung seitens des Verbands sogar kurz vor der Auflösung. Hätte Cedella Marley – Bob Marleys Tochter – nicht eingegriffen und sich als Botschafterin für das Team eingesetzt, würden die Jamaikanerinnen heute nicht im Achtelfinal einer WM-Endrunde stehen.
Dass die Lücke zwischen den Nationen kleiner wird, dürfte auch daran liegen, dass die Welt des Frauenfussballs allgemein grösser wird, wie die jamaikanische Verteidigerin Deneisha Blackwood zu Protokoll gibt. In den USA, in England, Deutschland, Frankreich, Spanien und Japan gibt es mittlerweile Ligen, in denen Frauen vom Fussball leben können. Davon profitieren auch Nationen, die wenig in den Frauenfussball investieren. So spielen bei den Underdogs aus den Philippinen die allermeisten Spielerinnen im Ausland – beispielsweise in den USA, in Australien oder in Schweden – und können von den Strukturen dieser Ligen profitieren. Im Nationalteam von Haiti spielen 14 Spielerinnen in der französischen Liga.
Dass also die «Kleinen» plötzlich in der Lage sind, die «Grossen» herauszufordern, dürfte nicht in erster Linie daran liegen, dass nun auch die kleinen Nationen in den Frauenfussball investieren. Eher liegt es daran, dass es im Frauenfussball mittlerweile Strukturen gibt, die halbwegs professionelle Trainingsbedingungen ermöglichen – wenn auch nur in einigen Ländern.
Die ehemalige Schweizer Nationalspielerin Kathrin Lehmann, die als TV-Expertin für das ZDF über die Frauenfussball-WM berichtet, sieht in der Tatsache, dass die kleinen Teams an dieser WM die grossen ärgern, jedoch nur ein kurzfristiges Phänomen: «Dieser sportliche Überraschungseffekt wird in vier Jahren nicht mehr vorhanden sein», sagt sie gegenüber der NZZ.
Topnationen wie die USA dürften nach dieser WM trotzdem gewarnt sein. US-Trainer Vlatko Andonovski kann dieser Entwicklung gegenüber der New York Times trotz grösserer Konkurrenz durchaus Positives abgewinnen: «Ob Nigeria oder Jamaika, Südafrika oder die Philippinen: Das sind die Teams, die zeigen, wie sehr der Frauenfussball gewachsen ist.»