Wer in einer Gruppe mit dem FC Barcelona und Bayern München weiterkommt, der sollte sich auch vor Manchester City nicht verstecken müssen. Dennoch scheint die allgemeine Meinung zu herrschen, dass Inter Mailand gegen ein übermächtiges Manchester City im Final der Champions League (Samstag, 21 Uhr) keine Chance hat. Doch sind die Italiener nicht so chancenlos, wie viele glauben.
Simone Inzaghi gilt in Fachkreisen als einer der besten Trainer, gerade wenn es darum geht, eine Mannschaft gezielt auf ein Spiel einzustellen. Die letzten sieben Finals – alle national – als Trainer hat der Italiener alle gewonnen. Im Interview mit der UEFA sagte Inzaghi auf das Spiel angesprochen: «Unsere Spielphilosophie wird sich nicht ändern. Es wird während des Spiels Momente geben, in denen wir offensiver agieren, und andere, in denen wir kompakt stehen müssen.»
Inter agierte in dieser Saison bislang in jedem Spiel in einer 3-5-2-Formation. Dennoch ist die Mannschaft des ehemaligen Stürmers keineswegs berechenbar. Das System mit zwei Stossstürmern ist für ein europäisches Top-Team doch eher untypisch, vielmehr dominieren Systeme mit einer alleinigen Spitze oder einer «falschen Neun».
Obwohl das System mit einer Dreierkette in der Abwehr und fünf Mittelfeldspielern davor vorwiegend auf eine eher defensive Ausrichtung hindeutet, ist Inter unter Inzaghi im Vergleich zu Vorgänger Antonio Conte offensiver geworden.
Inzaghi setzt auf schnelle Konter und entwickelte Inter zu einem Team, was auch vermehrt auf Ballbesitz setzt. Dazu nutzt Inzaghi im Aufbauspiel einen taktischen Kniff. Der ballnahe Aussenverteidiger lässt sich in die Abwehrkette zurückfallen, während sich der ballferne Aussenverteidiger in die Offensive mit einschaltet. So entsteht auf einer Seite des Spielfelds ein Übergewicht in der Offensive.
Doch diese Ausrichtung gibt dem Gegner die Möglichkeit, früh Druck auf die Abwehr auszuüben. In diesem Fall hat der einstige Lazio-Stürmer logischerweise auch eine Lösung parat. Einer der Innenverteidiger löst sich mit dem Aussenverteidiger aus der Abwehrreihe. Sie bilden mit dem defensiven Mittelfeldspieler nun eine neue Kette vor den beiden übriggebliebenen Innenverteidigern. So ergibt sich quasi eine 2-3-3-2-Formation, wodurch sich gerade in der Mitte neue Anspielstationen ergeben, um sich aus dem Pressing zu lösen.
Da Inter im zentralen Mittelfeld mit Spielern wie Nicolo Barella, Hakan Calhanoglu und Marcelo Brozovic sehr spielstarke Akteure besitzt, können sie auch jederzeit über schnelle Kombinationen aus der Abwehr heraus spielen. Mit einer schnellen Passstafette schaffte es Inter auch im Derby im Halbfinal-Hinspiel, den Treffer zum 2:0 zu erzielen. So kann es auch gegen Manchester City gehen, welche bei gegnerischem Ballbesitz ebenfalls gerne früh ins Pressing gehen.
Im Sturm stellt sich nur die Frage, wer neben Captain Lautaro Martinez in der Startelf stehen wird. In den beiden Halbfinal-Spielen stürmte jeweils Edin Dzeko neben dem Argentinier, während in den letzten Ligaspielen Romelu Lukaku als zweite Spitze agierte.
Nun müssen sich Inzaghi und sein Trainerteam fragen, welcher Stürmer gegen Manchester City besser passt? Dzeko spielte selbst einst für die «Skyblues» und konnte dort grosse Erfolge feiern. Doch der Bosnier ist mittlerweile schon 37 Jahre alt und nicht mehr der agilste.
Lukaku kennt Manchester City aus seiner Zeit in der Premier League ebenfalls bestens. Der Belgier bringt ein ähnliches Profil wie Dzeko mit, doch ist er etwas schneller. Beide haben in dieser Spielzeit bislang 14 Treffer erzielt, Lukaku gelang dies aber in 36 Spielen, Dzeko brauchte 51.
Inter spielt häufig gezielt auf die beiden Spieler in der Spitze. Dabei wird meist der bulligere Stürmer angespielt, um den Ball festzumachen, die Innenverteidiger auf sich zu ziehen und dann zu Lautaro Martinez zu passen. Falls er genug Platz hat, um mit Tempo an der Restverteidigung vorbeizuziehen, sucht er den Abschluss. Ist dies nicht der Fall, spielt er erneut einen Ball in die Tiefe und schickt seinen Sturmpartner auf die Reise.
Da sich diese Variante gerade auch im letzten Heimspiel gegen Atalanta als sehr erfolgreich erwiesen hat, wäre ein Startelf-Einsatz von Lukaku gegen City vermutlich die bessere Wahl. Gerade auch, da der Belgier mehr Tempo mitbringt und sich mit seinem Körper und seiner Wucht auch gegen Verteidiger wie Ruben Dias, John Stones und Manuel Akanji durchsetzen kann.
Die Mailänder haben in der Königsklasse eine hervorragende Defensiv-Statistik vorzuweisen. In acht der bisherigen zwölf Spiele in dieser Kampagne blieb Inter ohne Gegentreffer. Dabei musste das Team seit dem Viertelfinal auf seinen Milan Skriniar verzichten. Dieser verpasste verletzungsbedingt die Spiele gegen Benfica Lissabon im Viertelfinal und den Stadtrivalen AC im Halbfinal.
Für den Slowenen sprang Oldie Francesco Acerbi in die Bresche. Dieser löste die Aufgabe bislang ordentlich, doch er hatte bislang auch noch keinen Spieler vom Kaliber eines Erling Haaland auf der Gegenseite.
Dennoch spricht nichts dagegen, auch im Spiel gegen die «Citizens» auf den Routinier im Abwehrzentrum zu setzen. Die Tempodefizite, die der Italiener gegenüber dem Ausnahme-Stürmer hat, können in einer Dreierkette von seinen Mitspielern ausgeglichen werden.
Als Muster-Beispiel, wie es gegen Erling Haaland gehen kann, könnte die Leistung von Antonio Rüdiger aus dem Halbfinal-Hinspiel zwischen Real Madrid und den «Skyblues» dienen. Der deutsche Nationalspieler wurde nach seiner Performance in höchsten Tönen gelobt. Ex-Manchester-United-Verteidiger Rio Ferdinand sagte sogar: «Das war das Beste, was ich je von einem Innenverteidiger gegen Haaland gesehen habe.» Rüdiger liess den Norweger nicht aus den Augen und hielt ihn bei mageren 21 Ballkontakten und nur drei Torabschlüssen. Die spanische «AS» bezeichnete Rüdiger gar als «Haalands Kryptonit». Im Rückspiel wurde der 30-Jährige nicht eingesetzt.
Sergio Busquets, der selbst mehrfach mit dem FC Barcelona die Champion League gewinnen konnte, ist von Inter Mailand unter Simone Inzaghi beeindruckt: «Alle gehen davon aus, dass City gewinnen wird, aber Vorsicht. Erstens, weil in einem Finale alles passieren kann und das ist kein Klischee.» Ausserdem würde gegen ein Team wie Inter, «das ein so präzises und erprobtes System hat, alles sehr schwierig».
Mit dem FC Barcelona spielte der Spanier in dieser Saison selbst zweimal gegen den Finalisten aus Italien. Er weiss also, wovon er spricht, wenn er sagt: «Inter macht in der Mitte sehr gut zu, sie stehen optimal gestaffelt und bekommen zusätzlich die Hilfe der Stürmer. Wir haben in diesem Jahr zweimal gegen sie gespielt und gelitten.» Inter kreiere zwar nicht viele Chancen, doch sieht der 34-Jährige die beiden Stürmer gegen zwei Innenverteidiger in der Lage, Manchester City zu schaden. «Es kann alles passieren.»