Seit nunmehr fast 33 Jahren wartet Neapel auf den Gewinn des Meistertitels. In der Saison 1989/90 stand es am Ende letztmals zuoberst in der Tabelle der Serie A. Der grosse Star der SSC Napoli war damals noch ein gewisser Diego Maradona. Nun dürfen der Klub und die ganze Stadt aber wieder träumen – denn nach dem 5:1-Erfolg gegen Juventus Turin ist der Vorsprung auf den grossen Rivalen aus Italiens Norden auf zehn Punkte angewachsen. Aber was macht die Neapolitaner so stark?
Im Sommer verhängte Vereinspräsident Aurelio De Laurentiis einen Sparkurs. Viele namhafte Stars wie Kalidou Koulibaly oder Fabian Ruiz sowie Vereinslegenden wie Lorenzo Insigne und Dries Mertens verliessen Neapel in Richtung Premier League, Paris oder Nordamerika. Die Fans waren darüber nicht erfreut, sie fürchteten sich vor einer enttäuschenden Saison und machten ihrem Unmut Luft. Selbst Trainer Luciano Spalletti verkündete vor der Saison: «Erneut in die besten Vier zu kommen, wird sehr schwer.» Aber damit lag er falsch.
Und daran hat der 63-jährige Italiener einen erheblichen Anteil. Spalletti hat aus dem Team eine hervorragende Einheit geformt. Mehrere Neuzugänge zählen zur Stammformation und den Erfolgsgaranten. Der Coach, der seit 2021 an der Seitenlinie Napolis steht und zuvor unter anderem Inter Mailand und AS Rom trainierte, lässt ein modernes System spielen. Sein Team hat im Schnitt über 60 Prozent Ballbesitz, verzichtet dabei aber keineswegs auf Tempo. In der italienischen Liga spielt gemäss fbref.com kein Team mehr Pässe ins Angriffsdrittel und keines spielt häufiger in die Tiefe.
Dazu kommt, dass die Neapolitaner voll auf ihr Pressing setzen, nach Ballverlusten direkt nachsetzen und versuchen, den Ball zurückzuerobern. Dies gelingt dem Team von Spalletti in der Serie A am besten. Wie effizient ihr Pressing und wie gefährlich die schnellen Angriffe sein können, bekamen in der Champions League auch Liverpool und Ajax Amsterdam zu sehen. Napoli bezwang den Finalisten der vergangenen Saison 4:1, während die Niederländer mit 1:6 und 2:4 unterlagen.
Obwohl Napoli einige gute Einzelkönner im Kader hat, stimmt vor allem in der Defensive die Devise «das Team ist der Star». Die Viererkette um den Alteingesessenen Giovanni Di Lorenzo und den südkoreanischen Neuzuzug Min-Jae Kim lässt kaum Schüsse aufs Tor zu. Nur etwa zweieinhalb Abschlussversuche landen pro Spiel wirklich auf dem Kasten von Goalie Alex Meret.
So fällt es auch nicht besonders ins Gewicht, dass der 25-jährige Italiener nur die sechstbeste Abwehrquote aller Torhüter in der Serie A hat. In dieser Statistik schneidet Juventus mit Wojciech Szczesny, der nur 12 Gegentore in 18 Spielen hinnehmen musste, am besten ab.
Während Napoli mit 14 Gegentoren «nur» über die zweitbeste Defensive verfügt, hängt die Offensive des Teams aus Kampanien den Rest der Liga ab. 44 Tore erzielte die SSC Napoli in 18 Partien bereits. Dass dies kein Glück ist, zeigen zwei Werte besonders gut. Knapp sechsmal schiessen die Neapolitaner pro Spiel aufs Tor – fast zwei Tore sollten daraus gemäss dem Wert der erwarteten Tore statistisch gesehen resultieren. Beides sind mit Abstand die besten Werte der Liga. Und auch bei den Aktionen, welche direkt zu Schüssen führen, sind sie einsame Spitze.
Ausserdem zeichnet Spallettis Mannen eine unheimliche Passstärke aus. Mit über 85 Prozent angekommenen Pässen sind «Gli Azzurri» auch in dieser Statistik zuoberst zu finden. Und das liegt keineswegs daran, dass sich die Verteidiger und Mittelfeldspieler den Ball hin- und herschieben. Zwar spielen sie die meisten Pässe der Liga über eine kurze oder mittlere Distanz von bis zu 25 Metern, doch verfügen sie auch bei den längeren Pässen über die höchste Genauigkeit aller Klubs. Taktgeber ist dabei Stanislav Lobotka, der mit seinen Pässen die meisten Angriffe einleitet und sich gleichzeitig auch im Spiel gegen den Ball stark einbringt.
Trotz der vielen Chancen kommt auch der Leader der Serie A nicht ohne Stars aus. Mit Stürmer Victor Osimhen kann Neapel den Führenden der Torschützenliste aufs Feld schicken. Zwölf Tore erzielte der 24-jährige Nigerianer in 14 Liga-Einsätzen. Kein Wunder, gehört er zu den heiss begehrten Stürmern der Topklubs. Beim Sieg gegen Juventus erzielte Osimhen wieder zwei Tore – und stellte dabei seine Kopfballstärke unter Beweis. Vier seiner wettbewerbsübergreifend 13 Tore erzielte der Stürmer mit dem Kopf, drei mit links, sechs mit dem starken rechten Fuss. Seine Vielseitigkeit ist ein Traum für jeden Trainer.
Und dann wäre da noch der georgische Freigeist mit dem schwierigen Namen: Khvicha Kvaratskhelia. Der 21-Jährige spielte bis im Sommer ausschliesslich in Georgien und Russland, genoss also keine Ausbildung bei einem Klub einer europäischen Topliga. Doch gerade deswegen wird er von Fans und Experten so geschätzt – denn der als «Kvaradona» verehrte Flügelspieler verfügt über seinen ganz eigenen, vielleicht gar etwas unkonventionellen Spielstil. Und dieser hat ihm bereits sieben Ligatore eingebracht, dazu kommen ebenso viele Vorlagen. Somit hat Napoli nicht nur den besten Torschützen, sondern auch den besten Vorlagengeber (gleichauf mit Lazios Sergej Milinkovic-Savic) im Team.
So träumen die rund 960'000 Einwohnerinnen und Einwohner von Neapel wieder vom Gewinn des «Scudetto». 60'000 Fans verfolgten die Gala am Freitagabend im ausverkauften Stadio Diego Armando Maradona. Die Hoffnung, im nächsten Frühling endlich wieder den Meistertitel feiern zu dürfen, wurde durch den Erfolg nur noch grösser.
Il Maradona si illumina spontaneamente per il suo Napoli 💙 pic.twitter.com/QzHLkAHOSC
— Museo di Emozioni Napoli 🌋 (@museodiemozioni) January 14, 2023