Eigentlich ist Turku besser. Oder zumindest lange Zeit überlegen. Ambri taumelt. Ambri biegt sich. Aber es bricht noch nicht. Und dann passiert das, was mehr mit Magie als Taktik zu tun hat.
Neben mir sagt ein alter, weitgereister Hockeykenner: «Es ist bloss eine Frage der Zeit, bis Ambri ein Tor kassiert. Ambri kann nur noch ein Lucky Punch retten.»
Die Spieler geben alles. Sie kämpfen um jeden Zentimeter Eis. Um jeden Puck und verlieren doch nie Übersicht und Ordnung.
Aber es ist fast wie beim Rückzug der Eidgenossen 1515 bei Marignano nach der ehrenvollsten Niederlage unserer Geschichte: Es ist förmlich zu spüren, wie die Kräfte der Tapferen aus der Leventina schwinden. Noch steht es 0:0. Noch behaupten sie das «Schlachtfeld». Aber kurz vor «Halbzeit» nähert sich das heroische Ringen einem kritischen Punkt.
Genau jetzt, im wichtigsten Augenblick des Spiels, setzten die Sprechchöre der Fans ein. Alle im Stadion werden mitgerissen. Hockeyfestspiele. Und nun fliesst Energie von der Tribüne herab in die Spieler. Pure Magie. Hühnerhaut. So etwas ist nur in einem so emotionalen Spiel wie Eishockey möglich.
Das Wunder geschieht. Ein aufgeputschtes Ambri richtet sich wieder auf. Erzielt in Unterzahl (!) das 1:0. Fast genau zur Spielmitte (29. Minute). Der Wendepunkt.
Nun ist förmlich zu spüren: Dieses Spiel kann, wird Ambri nicht verlieren. Torhüter Ludovic Waeber, im richtigen Leben die Nummer zwei bei Gottéron und nächste Saison die Nummer zwei bei den ZSC Lions, gelingt die Partie seines Lebens. Die Energieströme haben auch ihn aufgeladen. Ambri gewinnt 3:0. Der zweite Sieg. Die direkte Qualifikation fürs Halbfinale.
Zum zweiten Mal in der Geschichte des Spengler Cups (seit 1923) wird «La Montanara» zelebriert. Die schönste Siegeshymne im Sport.
Fredi Pargätzi, jahrelang OK-Chef und heute «Elder Statesman» des Turniers, sagt: «So eine Stimmung habe ich noch nie erlebt. Da kriegt man einfach Hühnerhaut.» Das will etwas heissen: Er hat wahrscheinlich in seinem Leben mehr Hockeyspiele erlebt als die meisten Zuschauer im Stadion.
Wie aufgeladen die Tapferen der Leventina waren, mag eine Episode nach dem Spiel zeigen. Glühend vor Leidenschaft stapft Marco Müller, der sonst so coole spielerische Lenker und Denker, noch in Schlittschuhen durch den Gang. Er sucht die Schiedsrichterkabine. Auf die Frage, was ihn denn so aufgebracht habe, sagt er: «Ich bin ganz am Schluss zu Unrecht bestraft worden. Das geht gegen meine Ehre. Ich habe keine Schwalbe gemacht. Ich will von den Schiris eine Erklärung.»
Es gelingt einem freundlichen älteren Herrn, ihn zu beruhigen und er trottet in die Kabine zurück. Er personifiziert in diesem Augenblick Ambris Stolz, Leidenschaft und unbedingten Willen zum Sieg.
Energie von den Fans. War das nun eine mystifizierte Analyse? Nein. Sportchef Paolo Duca sagt nach dem Spiel: «Es gibt diese Wechselwirkung zwischen unserem Spiel und unseren Fans. Ja, sie geben und Energie und wir versuchen ihnen mit unserem Spiel etwas zurückzugeben.»
Ambris charismatischer Sportchef sagt, er habe nicht zwei Siege erwartet. «Siege kann man nicht erwarten. Aber wir sind nach Davos gekommen, um alles zu geben und alles für den Sieg zu tun. Ob es reichen wird, wussten wir nicht. Wir haben es einfach versucht.»
Ambri hat das Feuer der Emotionen entfacht und mit der Kraft der Leidenschaft ein Wunder vollbracht. Ja, das ist es. Ein Wunder. Erst der Sieg über das russische Spitzenteam Ufa. Jetzt der Triumph über eine Mannschaft aus der Liga des Weltmeisters. Noch in den 1990er Jahren hätten ob solchen Resultaten die Kirchenglocken geläutet.
Aber Eishockey geht auch ohne Emotionen. Statt das Feuer der Leidenschaft zu entfachen kann man auch ein bisschen mit dem Feuer spielen. Und sich dabei die Finger verbrennen. Wie der HC Davos.
Die HCD-Renaissance in dieser Saison – vom «Playoutisten» zum Spitzenteam – ist eine der ganz grossen Leistungen der letzten Jahre. Und das Resultat einer klugen Strategie. Wenn je ein Plan aufgegangen ist – dann diese Saison beim HCD.
Sportdirektor Raeto Raffainer hat bisher alles richtig gemacht. Der Unterschied zu Paolo Duca: Er ist kein Romantiker. Er ist eher ein Technokrat. Er weiss um die Kraft aus der Leidenschaft, die Ambri ins Halbfinale getragen hat. Aber er setzt auf Kalkül statt Gefühl. Und begeht eine «Todsünde», die der HCD nur mit einem Sieg im Viertelfinale gegen Turku wieder einigermassen korrigieren kann.
«Todsünde»? Ja, es ist im Sport eine «Todsünde», ein Spiel absichtlich zu verlieren. Hallo! Absichtlich verloren? Sicher nicht!
Doch, genau so war es. Raeto Raffainer und sein Trainer Christian Wohlwend verzichten gegen Team Canada auf den Einsatz ihrer besten Spieler. Sie setzen Casey Wellmann, Danny Kristo, Harri Pesonen, Aaron Palushaj, Mattias Tedenby und Magnus Nygren – allesamt berühmte Grossmeister der Hockeykunst – nicht ein und treten fast nur noch mit drei Linien an.
Die Partie ist entschieden, bevor sie richtig angefangen hat. Die Kanadier führen schon in der 4. Minute mit 2:0. Jeder im Stadion spürt, weiss es: Nun könnte diese Farce eigentlich beendet werden. Der HCD hat gar keine Chance. Und der Gipfel der Schmach: Das 1:0 erzielt Andrew MacDonald. Die offensive SCB-Nullnummer, die während der ganzen letzten und der ganzen aktuellen Saison kein einziges Mal ins Tor getroffen hat.
Raeto Raffainer hat eine plausible Erklärung, warum der HCD seine besten Männer geschont und praktisch nur mit drei Linien gespielt hat. «Weil wir 19 Stunden nach dieser Partie den Viertelfinal bestreiten müssen.» Und auch auf die Frage, ob das denn nicht Betrug am Zuschauer sei, hat er eine klare Antwort: «Wir machen alles, um an unserem Turnier erfolgreich zu sein.»
Der Plan ist also ganz einfach, logisch und klar: Das Spiel gegen die Kanadier fahren lassen (weil es nach der 1:4-Startniederlage gegen Trinec ohnehin keine realistische Möglichkeit mehr gibt, das Halbfinale direkt zu erreichen) und die Kräfte fürs Viertelfinale am nächsten Tag sparen.
Das ist richtig überlegt. Aber der HCD-Sportdirektor und sein Trainer spielen mit dem Feuer. Eines der ewigen Gesetze des Eishockeys heisst: «You play the game to win.» Immer. In jeder Lage.
Der HCD hat dieses Gesetz vorsätzlich missachtet und nicht gespielt, um zu gewinnen. Sondern um Kräfte zu sparen. Und dabei Torhüter Joren van Pottelberghe geopfert.
Nichts ist für einen Torhüter schlimmer als in einer Partie im Tor zu stehen, die der Sportchef, der Trainer und eigentlich auch seine Vorderleute abgeschrieben haben. Noch selten stand ein Goalie beim Spengler Cup auf verlorenerem Posten als Joren van Pottelberghe in dieser Farce gegen Team Canada. Und ein Schuft, der nun raunt: Logisch, hat ihn der Trainer bei dieser aussichtslosen Mission in den Kasten gestellt. Joren van Pottelberghe spielt nächste Saison sowieso nicht mehr in Davos. Er ist auserkoren, in Biel die Nachfolge von Jonas Hiller anzutreten.
Wir haben also nicht den wahren Joren van Pottelberghe gesehen. Wiederum kein Schuft, wer denkt: In dieser Situation hätte Jonas Hiller nicht besser ausgesehen.
Raeto Raffainer ist ein enormes Risiko eingegangen: Wenn der HCD nun das Viertelfinale gegen Turku nicht gewinnt, dann kann der HCD-Auftritt bei diesem Turnier nur als Farce bezeichnet werden.
Bei einem ausverkauften Stadion, bei TV-Bildern in alle helvetischen Stuben und hinüber nach Kanada die Besten auf die Tribüne zu schicken – das ist bei Lichte besehen Betrug am zahlenden Zuschauer.
Aber wir lernen noch etwas: Ambri ist eine Traumfabrik. Ein so faszinierendes Hockeyunternehmen, ein Mythos, weil es auf die Kraft der Leidenschaft setzt. Vielleicht ist das der Grund, warum die Tapferen der Leventina so viele grosse Siege gefeiert haben. Aber unsere Meisterschaft noch nie zu gewinnen vermochte und das einzige Finale 1999 gegen Lugano verloren hat. Ausgerechnet.
Der HC Davos ist auch ein faszinierender Teil unserer Hockey-Kultur. Aber in seiner DNA auch heute mehr Hockeyunternehmen als Traumfabrik. Mehr Kalkül als Gefühl. Vielleicht ist das der Grund, warum die Schlauen aus den Bergen schon mehr Meisterschaften gewonnen haben als jeder andere helvetische Hockeyclub.
Natürlich werden wir uns verneigen (und zwar so tief wie wir es vermögen), wenn diese Rechnung von Raeto Raffainer aufgeht und die Halbfinalqualifikation heute gelingt. Der Sieger hat immer recht. Auch das ist ein ewiges Gesetz des Sportes.
Aber ich bleibe dabei: Beim 1:5 gegen die Kanadier haben es die Davoser übertrieben. Ohne Gefühl und nur Kalkül – das geht beim Spengler Cup einfach nicht.
Forza Ambri!
Wegen diesem Verrat am eigenen Turnier haben nun alle Miesmacher (siehe Kommentare) massiv Aufwind. Und dann die Aussage von Raffainer, alles für ein erfolgreiches Turnier zu machen: Erfolg am SC heisst auch, den Hockeyfans von nah und fern attraktiven und hochstehenden Sport geboten zu haben. Ich sags als HCD-Sympatisant: Hopp Turku!