Die Schweiz und Kanada teilen sich Rot und Weiss als Nationalfarben und pflegen sorgfältig ihren Ruf als höfliche, friedliche Menschen. In Down Under taten die kanadischen Fussballerinnen in den letzten beiden Tagen aber deutlich mehr für ihr Image als die Schweizerinnen.
Während die Spielerinnen mit dem Kreuz auf der Brust mit Neuseeland den einen Co-Gastgeber der WM ausbooteten, gaben die Ahornblätter beim 0:4 die Statisten für eine wundersame australische Auferstehung.
Bei zuvor acht Frauen-Weltmeisterschaften war der Gastgeber nie bereits in den Gruppenspielen ausgeschieden. Dass es nun Neuseeland traf, ist keine Sensation, die «Football Ferns» waren als Nummer 26 des FIFA-Rankings hinter Norwegen (12) und der Schweiz (20) eingestuft. Ein Scheitern Australiens, Weltnummer 10 und Olympia-Halbfinalist, wäre demgegenüber einer riesigen Enttäuschung gleichgekommen.
Mit einem eher glückhaften 1:0 dank eines Penalty-Tores gegen den WM-Debütanten Irland und einer sensationellen 2:3-Niederlage gegen Nigeria hatten sich die «Matildas» (nach dem Volkslied «Waltzing Matildas») genannten australischen Fussballerinnen aber in eine ungemütliche Lage gebracht.
Die bangen Fragen drehten sich vor allem um die Verfügbarkeit der Rekord-Torschützin Sam Kerr. Die Starstürmerin von Chelsea laboriert an einer Wadenverletzung, und Coach Tony Gustavsson machte stets ein grosses Geheimnis um die Schwere der Verletzung. Kerr fehlte jedenfalls in den ersten beiden Gruppenspielen, für die entscheidende Partie gegen Kanada setzte sie sich zumindest auf die Bank.
27'706 füllten den AAMI Park gleich gegenüber der Rod Laver Arena, in der Roger Federer sechsmal das Australian Open gewann, bis auf den letzten Platz. Australier fühlen sich generell wohl mit dem Rücken zur Wand, dann laufen sie oft zur Höchstform auf. Die «Matildas» blieben dieser Tradition treu. Nach allen Regeln der Kunst wurden die Olympiasiegerinnen aus Kanada mit Tempo und Spielwitz geradezu der Lächerlichkeit preisgegeben. Die Doppel-Torschützin Hayley Raso und die erst 20-jährige Mary Fowler, beide in der letzten Saison bei Manchester City eher in der Reservistenrolle, traten aus dem langen Schatten Kerrs und sorgten für ein offensives Feuerwerk.
Die Erleichterung dürfte nicht zuletzt bei den Chefs des australischen Verbandes riesig sein. Sie wollen die Heim-WM zur Positionierung des Fussballs im eigenen, sportverrückten Land mit der riesigen Konkurrenz und für Frauenanliegen im Allgemeinen nutzen. Auch deshalb hatten sie sich vehement gegen den von der FIFA angedachten Turniersponsor Saudi-Arabien gewehrt. Da wäre ein Scheitern des Aushängeschildes eine ziemliche Katastrophe gewesen.
Nach der 4:0-Gala hat sich die Stimmungslage nun wieder komplett gedreht. «Am Sonntag fragte jemand, ob dies ein Moment wird, der unser Vermächtnis definiert», erzählte Tony Gustavsson. «Das war so ein Moment, und wir haben uns nicht davor versteckt.» Und die Veteranin und Ersatzspielerin Chloe Logarzo schwärmte: «Wir haben eine Nation inspiriert.»
Vielleicht schaffen sie es nun sogar, die Cricket-Stars, die gerade gegen England um die berühmte «Ashes»-Trophäe spielen, von den Titelseiten der Sportmeldungen zu verdrängen. Umso mehr, als es im Achtelfinal in Sydney zum stets besonders emotionsgeladenen Duell mit der ehemaligen Kolonialmacht kommen könnte. Mögliche Gegner sind neben England auch Dänemark oder China. Vielleicht ist bis dann auch Sam Kerr wieder fit – und mit Sicherheit hochmotiviert und ausgeruht. (ram/sda)