Nicht einmal mehr ein Jahr dauert es bis zum Eröffnungsspiel der Europameisterschaft 2024 in Deutschland. Und die Vorfreude könnte nicht geringer, der Pessimismus nicht stärker, die Stimmung nicht schlechter und die Probleme der Nationalmannschaft des Gastgebers nicht grösser sein. Kurz gesagt: Die DFB-Elf versinkt im Chaos.
Nach dem 3:3-Unentschieden gegen die Ukraine und der 0:1-Niederlage in Polen haben die Deutschen nun keines der letzten drei Spiele gewonnen. Aus den letzten 15 Spielen resultierten nur vier Siege – gegen Peru, Costa Rica, den Oman und ein Italien, das auf viele Leistungsträger verzichtete.
Der «Kicker» rief nach dem «dramatisch unbeholfenen und unsortierten» Auftritt gegen die Ukraine kurzerhand die «Alarmstimmung» aus. Der «Spiegel» heisst die «Mannschaft ohne Gesicht» im Mittelmass willkommen, während T-Online befindet, dass jetzt nur noch Rudi Völler helfen könne. Dass nach einem Mann gerufen wird, dessen letztes Engagement als Trainer bei der EM im nächsten Jahr knapp 20 Jahre in der Vergangenheit liegen wird, sagt eigentlich alles über den Zustand dieses Teams aus.
Und die Spieler gehen nicht weniger hart mit sich ins Gericht. «Das ist sinnbildlich für uns, die treffen sofort mit einer Chance», sagt Abwehrchef Antonio Rüdiger nach der Niederlage gegen Polen, «es fehlt die letzte Gier, der letzte Pass, und dann verliert man so ein Spiel». Schon im vorherigen Spiel ärgerte sich Joshua Kimmich über die «saudummen Gegentore», die Deutschland zugelassen habe. Das Team zerreisst sich nach den gezeigten Leistungen selbst.
Nur einer lässt sich von den enttäuschenden Auftritten und Ergebnissen nicht aus der Bahn werfen. «Wir hatten viele Chancen, aber im Moment fehlt uns auch das Quäntchen Glück», sagt Bundestrainer Hansi Flick. Und: «Ich bin nach wie vor felsenfest überzeugt von unserem Weg.» Dies ist er auch von Kimmich, der einer der Spieler ist, die von aussen mit am stärksten kritisiert werden. Der 58-Jährige hingegen nimmt den Interim-Captain in Schutz: «Er hat die Mentalität, einfach gewinnen zu wollen, wie Kobe Bryant und Michael Jordan sie auch hatten.» Flick gesteht Kimmich das Recht zu, «dass er mal eine schlechte Phase hat».
Aber viele sehen darin eben auch ein Zeichen dafür, dass sich im Vergleich zu Vorgänger Joachim Löw nicht viel verändert hat. Auch dieser hielt oftmals zu lange und zu bedingungslos an einigen Spielern fest, während andere trotz starker Leistungen im Klub auf der Bank versauerten. Und das ist nicht der einzige Kritikpunkt, der bereits zu hören war, als Löw noch an der Seitenlinie des deutschen Nationalteams stand.
Noch immer scheint die Offensive zu ideenlos, zu wenig zwingend, gelingt es Flick nicht, aus eigentlich sehr talentierten Spielern wie Kai Havertz, Jamal Musiala, Florian Wirtz, Serge Gnabry oder auch Leroy Sané eine funktionierende Einheit zu formen.
Und noch immer unterlaufen in der Defensive regelmässig Fehler, die zu Gegentoren führen. Auch wegen der vielen Experimente und unterschiedlichen Abwehrreihen, die Flick probiert hat, kommt keinerlei Stabilität auf. So kassierte Deutschland in den letzten drei Spielen sieben Gegentore, an der WM trafen selbst die vermeintlich deutlich unterlegenen Gegner Japan und Costa Rica doppelt gegen Deutschland.
Umso beängstigender scheint da das Urteil der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, welche die grösste Problemzone der Deutschen im Mittelfeld ausmacht. Es fehle ein «Parkwächter, der die Gegner am Toben und Tollen hindert». Diese Rolle füllte lange Sami Khedira oder auch einmal Bastian Schweinsteiger aus. Letzterer, heute TV-Experte, forderte nun, dass mehr Spieler nominiert würden, die nicht nur grosses Potenzial haben, sondern vor allem die richtige Einstellung.
Denn darin liegt wohl die grösste Gefahr für das deutsche Nationalteam. Mit den zuweilen lustlosen Auftritten droht das Nationalteam nämlich sämtlichen Kredit bei der so fussballbegeisterten Bevölkerung zu verspielen. Gemäss dem früheren Nationaltrainer Berti Vogts würden die deutschen Tugenden fehlen, das Team spiele nicht wie eine deutsche Mannschaft. «Ich kann nachvollziehen, dass sich die Fans mit diesem Fussball nicht identifizieren können und mit der Nationalmannschaft fremdeln.»
Im 1000. Länderspiel, das gegen die Ukraine in Bremen ausgetragen wurde, waren in der Halbzeit laute Pfiffe und Buhrufe zu hören. Am Dienstagabend (20.45 Uhr) hat Deutschland in Gelsenkirchen gegen Kolumbien die Chance, Wiedergutmachung zu betreiben.
Diese Chance sollte das Team von Hansi Flick wahrnehmen. Viel Zeit bleibt nämlich nicht mehr, um Euphorie aufkommen zu lassen, die Vorfreude auf die Europameisterschaft im eigenen Land zu steigern und vor allem die Probleme im Team zu beheben. Doch noch einen Neuanfang nach der Ära Löw zu wagen. Denn zum aktuellen Zeitpunkt scheint die Entscheidung, Löw nach der EM 2021 durch Flick zu ersetzen, vielmehr wie ein Neuanfang, der keiner ist.
Oder setzt jemand die Vorbesprechung für ein wichtiges Projekt an einem Freitagabend an?