Als Tottenham Hotspur in diesem Sommer eine Asien-Tour unternahm, gehörte natürlich auch Südkorea zu den Zielen. Am Flughafen von Seoul wurden die Profis des Premier-League-Klubs nicht nur von Teamkollege Heung-min Son, sondern auch von hunderten Fans mit tosendem Applaus empfangen. Die meisten von ihnen waren aber wegen Son da. «Er ist ein Nationalheld», sagte eine 65-jährige Südkoreanerin zu The Athletic.
Son wird in Südkorea geliebt, ja gar verehrt. Der Fussballer sei noch beliebter als die Superstars der koreanischen Popmusik (K-Pop) wie beispielsweise BTS, sagte eine 20-jährige Besucherin. Doch aus diesem Status als Nationalheld und Star des Nationalteams entsteht auch eine Verantwortung. Der 30-Jährige gehört zu den besten Spielern der Welt und wurde in der vergangenen Saison Torschützenkönig in der Premier League. Dementsprechend gross sind die Hoffnungen der südkoreanischen Fans in ihren Captain – und damit auch der Druck auf dessen Schultern.
Look who was waiting for us 🥰
— Tottenham Hotspur (@SpursOfficial) July 10, 2022
Thank you for the special welcome, Seoul! 💙
Let’s get this tour underway! ✨#SpursInSeoul pic.twitter.com/8ou8r05mxj
Son geht es dabei wie schon vielen vor ihm, die das schwierige Los als einsamer Star einer Nation gezogen haben. Wie beispielsweise Mohamed Salah bei den Ägyptern, Zlatan Ibrahimovic bei Schweden oder Gareth Bale bei Wales. Die Erwartungen an diese Spieler sind jeweils so gross, dass ein Einzelner sie eigentlich gar nicht erfüllen kann – zumal die gegnerischen Defensiven sich vor allem auf sie konzentrieren können und ihnen das Leben zusätzlich schwer machen.
Und trotzdem werden von Son grosse Leistungen erwartet. John Bennett von der BBC schrieb während des Spiels der «Taegeuk Warriors» gegen Ghana: «Jedes Mal, wenn Son den Ball bekommt – selbst wenn er meilenweit vom gegnerischen Strafraum entfernt ist –, stehen die Südkorea-Fans auf.» Doch Son gelang nicht viel, die beiden Tore bei der 2:3-Niederlage erzielte Gue-sung Cho. Den Südkoreanern droht wie schon 2014 und 2018 das Ausscheiden in der Gruppenphase.
Über seine ersten beiden WM-Teilnahmen sagte Son im September: «Ich habe miterlebt, wie der grosse Druck zu Resultaten geführt hat, die wir vermeiden wollten.» Vor dem letzten Gruppenspiel gegen Portugal ist dieser wieder immens. Südkorea braucht dringend einen Sieg und muss gleichzeitig hoffen, dass Ghana nicht gegen Uruguay gewinnt. Und natürlich ruhen die Hoffnungen wieder auf dem Flügelspieler.
Dabei ist Son von einer Verletzung gehemmt. Anfang November erlitt der Spurs-Profi eine Fraktur um das linke Auge. Die Zweifel an seiner WM-Teilnahme wischte er in der Folge zwar schnell weg – «ich werde das um nichts in der Welt verpassen», schrieb er bei Instagram –, doch aufgrund der Verletzung spielt er an der WM mit einer Gesichtsmaske. Aufgrund dieser jubelte er bei einem der Treffer gegen Ghana auch nicht mit seinen Teamkollegen, um sein Auge zu schützen.
The Heung-min Son effect™ pic.twitter.com/9B6JyPYt5S
— B/R Football (@brfootball) November 24, 2022
Und kaum spielt der grosse Star mit einer Maske zum Schutz seines Gesichts, sind auch im Publikum viele Fans mit Masken zu sehen. Son ist das Idol einer ganzen Generation, so wie es einst Ji-sung Park für Son war. Bei der Heim-WM begeisterten Park und seine Mitspieler 2002 das ganze Land mit dem Halbfinaleinzug. Noch heute gerät Son ins Schwärmen, wenn er darüber spricht. Bei Sports Illustrated erzählt er: «Ich kann mich erinnern, dass auf den Strassen alles rot war – rote T-Shirts, rote Lichter und rotes Feuerwerk. Das Land war unglaublich, dieses fantastische Erlebnis werde ich nie vergessen.» Jeden Tag habe er das Nationaltrikot zur Schule getragen.
Doch Park ist auch neben dem Platz ein Vorbild für Son, der sagt: «Ich fühle eine grosse Verantwortung, weil ich wie er sein möchte, ein gutes Vorbild für die Kinder.» Das ist Son zweifelsohne, der Südkoreaner ist einer der beliebtesten aktiven Fussballer – bei Fans und Mitspielern. Bei der Asien-Tour von Tottenham überhäufte er die Teamkollegen mit Geschenken, um ihnen die südkoreanische Kultur näherzubringen. Auch seine Bescheidenheit und fehlenden Star-Allüren machen ihn so populär. «Ich bin nicht so berühmt», sagt Son und fügt an: «Ich glaube, ich bin einfach normal.»
Die 12 Millionen Südkoreanerinnen und Südkoreaner, die gemäss einer Umfrage Tottenham-Fans sind, sehen das natürlich anders. Die WM in Katar ist wohl die letzte Chance für den 30-jährigen Son, um es seinem grossen Idol gleichzutun und die Euphorie in seiner Heimat in ähnliche Sphären steigen zu lassen wie 2002. Dafür müssen die Südkoreaner aber über sich hinauswachsen und die favorisierten Portugiesen schlagen.
Doch es wäre nicht das erste Mal, dass sie sich im entscheidenden Gruppenspiel als Aussenseiter durchsetzen. 2018 gelang gegen Deutschland mit dem 2:0-Erfolg die grosse Überraschung, welche das Ausscheiden des vierfachen Weltmeisters bedeutete. «Eine meiner schönsten Erinnerungen», wie Son, einer der damaligen Torschützen, sagt. Ein Weiterkommen in Katar würde diese ohne Zweifel toppen.