Es ist ein Dienstag Anfang März. Das Café Wilma Wunder liegt direkt vor dem Mainzer Dom. Als Silvan Widmer das Café betritt, zieht er einige Blicke auf sich. Die Wünsche des Personals nach einem Selfie erfüllt der Captain von Mainz 05 noch so gerne. Zuvor nimmt er sich ausführlich Zeit für Interview und Fotos.
Silvan Widmer, die WM in Katar ist drei Monate her. Wie sieht Ihr Fazit im Rückblick aus?
Silvan Widmer: Mit ein bisschen Abstand sage ich: grundsätzlich positiv. Es waren vier schwierige Spiele. Davon haben wir dreimal gut performt, denke ich. Und einmal halt überhaupt nicht.
Beim 1:6 im Achtelfinal gegen Portugal. Sie selbst konnten nicht dabei sein, weil Sie krank waren. Wann spürten Sie die ersten Symptome?
Am Morgen des Tags vor dem Spiel. Ich bin aufgewacht und habe mich gar nicht gut gefühlt.
Wie hat sich das geäussert?
Ich hatte Kopfweh, Halsweh, ich fühlte mich einfach schwach. Dann kam das Abschlusstraining, ich versuchte, mitzumachen. Aber es ging überhaupt nicht gut. Ich hatte keine Energie, einfach nichts. Dann entschieden wir, dass ich den Rest des Tages isoliert werde und allein im Zimmer verbringe. Aber es wurde immer schlimmer, am Abend hatte ich erstmals Fieber. Am nächsten Morgen dann hohes Fieber. Worauf wir die Entscheidung trafen, dass es nicht geht.
Wie war das zu verkraften?
Es ging mir beschissen. Körperlich und mental. Als ich mit den Ärzten die Entscheidung traf, da hat es nicht zwei Meinungen gegeben. Es war für alle klar: keine Chance. Das war mit Sicherheit einer der traurigsten Tage meiner Karriere.
Hatten Sie die Kraft, um das Spiel am TV zu schauen?
Das schon. Aber ich hatte keine Kraft, mich während des Spiels darüber aufzuregen. Ich habe es einfach über mich ergehen lassen. Es war traurig, das anzusehen. Es ging mir nur noch schlechter.
Sie sind rund um diesen WM-Achtelfinal plötzlich zum meistdiskutierten Schweizer Nationalspieler geworden, auch weil Nationaltrainer Murat Yakin keinen Back-up für Sie nominiert hatte. Wie erlebten Sie diese Diskussionen?
Weil ich krank war, habe ich das zunächst gar nicht so wirklich mitbekommen. Es ist klar, dass nach so einer Niederlage analysiert und hinterfragt wird, von den Protagonisten, von den Medien. Das ist normal, eine Nachbearbeitung ist wichtig. Aber irgendwann reicht es dann auch. Auch dass wir jetzt nochmals darüber reden – das WM-Ende ist drei Monate her, das ist eine lange Zeit im Fussball-Business.
Die entscheidende Frage ist aber: Braucht es teamintern noch eine Aufarbeitung der Ereignisse? Die WM endete abrupt, es gab keine Gelegenheit, die verschiedenen – auch internen – kritischen Voten aufzuarbeiten.
Ich sehe den Punkt. Ich bin aber eher der Meinung, dass nach so einer Enttäuschung jeder für sich Abstand braucht. Ich glaube nicht, dass man unmittelbar zusammensitzen und alles komplett durchanalysieren kann. Jeder muss auf seine Art alle Eindrücke des Turniers verarbeiten. Ich finde nicht, dass es jetzt eine grosse Aufarbeitung braucht.
Nun steht die EM-Qualifikation an. Die Gegner heissen: Weissrussland, Israel, Rumänien, Kosovo und Andorra. Da müssen zehn Siege her, oder?
Nein, so absolut würde ich das nicht sagen. Wir müssen uns einfach für die EM qualifizieren.
Aber souverän muss es schon sein – schliesslich sind der Gruppenerste und der Gruppenzweite direkt qualifiziert.
Ja, das stimmt. Wir wollen in jedem Fall schnell die direkte Qualifikation erreichen. Wenn das gelingt, bin ich happy.
Was halten Sie vom Entscheid der UEFA, dass die Schweiz gegen Weissrussland ausgerechnet in Serbien spielen muss?
Das möchte ich nicht kommentieren. Diese Einschätzung überlasse ich Ihnen.
Sie haben sich mittlerweile als klare Nummer 1 auf der rechten Seite etabliert, wie ist es dazu gekommen?
Ich musste lange hinten anstehen in der Nati. Bis ich 27 wurde, konnte ich nur ein paar wenige Spiele absolvieren, obwohl ich oft dabei war. Ja, ich musste ein paar schwierige Phasen überstehen. Danach aber kamen die Einsätze, und zwar auch von Anfang an und gegen grosse Gegner.
Sogar Tore erzielten Sie, wie gegen Deutschland oder im WM-Qualifikationsspiel in Italien. Und dass mit Murat Yakin ein Nationaltrainer am Ruder ist mit einer Vorliebe für taktisch intelligente Spieler, hat Ihnen nochmals geholfen.
Das kann man so sagen. Ich profitiere sicherlich davon, dass ich jahrelang in Italien gespielt habe, bei Udinese. Dort wird sehr viel Wert auf taktische Schulung gelegt. Davon konnte ich viel mitnehmen.
Sind Sie 2018 von Udinese nach Basel gewechselt, mit dem Ziel, noch einmal neuen Schwung zu holen in der Karriere?
Definitiv. Das war damals mein Gedanke. Ich brauchte nach fünf Jahren in Italien etwas Neues. Diese Herausforderung sah ich in Basel. Und auch wenn wir als Team nicht alle Ziele erreicht haben, so war es für mich tatsächlich ein neuer Anlauf - und ich konnte mich wieder fürs Ausland und die Nati aufdrängen.
Dann wechselten Sie im Sommer 2021 nach Mainz – wo Sie ein Jahr später bereits Captain wurden. Gibt es ein schöneres Lob?
Darauf bin ich in der Tat sehr stolz. Ich kann mich sehr mit dem Verein identifizieren.
Mainz hat einen Stadtheiligen: Jürgen Klopp. Wie viel Klopp steckt noch in der Stadt?
Ich spüre nicht mehr viel von ihm. Aber vielleicht ist das bei Silke anders? (Blickt zur Medienbetreuerin.)
Silke Bannick: Sie werden keinen Mainzer finden, der sich nicht sofort selbst mit Jürgen Klopp verbindet auf irgendeine Art. Er ist der Sohn der Stadt, hat noch immer ein Haus hier. Aber: Wenn er hier in einem Café sitzt, dann kann er tatsächlich in Ruhe etwas trinken.
Widmer: Echt? Tönt ein bisschen wie bei Roger Federer in der Schweiz. Der kann auch in Ruhe seinen Espresso trinken.
Bannick: Das liegt vielleicht auch daran, dass es schon noch eine ziemlich andere Zeit war, als Klopp hier Profi war. Wir waren noch nicht in der Bundesliga, und auch insgesamt hat der Fussball, was die Professionalisierung angeht, einen ziemlichen Sprung nach vorne gemacht. Damals gab es beispielsweise noch Trainingsspiele «Raucher» gegen «Nicht-Raucher».
Wie viele Raucher gibt es denn heute noch im Team?
Widmer: Keinen, soweit ich weiss (lacht). Nein, das geht nicht mehr. Das liegt nicht mehr drin.
Ist der Fussballprofi von heute zum Modell für die Wissenschaft geworden?
Das vielleicht nicht gerade. Aber es ist schon die Tendenz erkennbar, dass ein Fussballer je länger je mehr «Anforderungen auf dem Papier» erfüllen muss. Fussballer, die nicht in allen Bereichen maximale Professionalität an den Tag legen, gibt es immer weniger. Und wenn Sie die Wissenschaft ansprechen: Es wird tatsächlich überall versucht, noch ein halbes Prozent mehr herauszuholen. Und da meine ich nicht den Fussball, sondern Dinge wie Ernährung, Erholung oder Trainingssteuerung.
Denken Sie manchmal: Das ist ein zu umfassendes Programm?
Es ist einfach intensiver. Vor 20 Jahren war das «Fussball-Profi-Dasein» einfach: Du trainierst zwei Stunden am Tag, ansonsten kannst du machen, was du willst. Du isst, was du willst. Du trinkst, was du willst und wann du willst. Heute ist der Profisport quasi ein 24/7-Betrieb, und zwar fast das ganze Jahr über. Trainingsvorbereitung, Trainingsnachbereitung, Videoanalyse, Trainingsanalyse, Physiotheraphie, Pflege. Kraftraum, gute Erholung, Schlaf, Ernährung – es ist alles viel aufwendiger geworden. Aber ich merke, je älter ich werde, dass es sich lohnt, in diese Bereiche zu investieren.
War es früher anders?
Ja. In jungen Jahren brauchte ich viel weniger lang, um mich zu erholen. Entsprechend gab es schon das eine oder andere Training, bei dem ich nicht zu 100 Prozent ausgeschlafen erschien. Jetzt würde das nicht mehr gehen.
Sie sind vor wenigen Tagen 30 Jahre alt geworden - was wünschen Sie sich zum runden Geburtstag?
Ganz einfach: dass die Familie gesund bleibt.
Und fussballerisch? Wo soll es noch hingehen?
Die habe natürlich die EM 2024 als grosses Ziel. Und in Mainz würde ich den Fans schon auch gerne noch etwas Freude bereiten. Ich würde mir wünschen, dass unser Stadion auch regelmässig ausverkauft ist, wenn es nicht gerade gegen die Bayern oder gegen Frankfurt geht.
Wie sieht Ihr Alltag in Mainz aus?
Es ist immer viel los. Die grosse Tochter geht in den Kindergarten. Die kleine nimmt erste Gehversuche in der Kita. Mein Frau Céline hat derweil kürzlich ein eigenes Business aufgebaut, das sie viel beschäftigt, einen Online-Schmuck-Shop. Céline hatte schon immer ein Auge für das Schöne und das Elegante. Die Idee entstand vor einem Jahr, online ist der Shop seit Dezember.
Sie haben Ihre Töchter erwähnt, Alissa ist fünf, Zoé zwei - werden sie später Fussballerinnen?
Im Moment erkenne ich doch eher andere Interessen. Alissa geht gerne ins Ballett. Zoé muss ihre Interessen noch entwickeln. Aber beide sind sehr aktiv, spielen sehr süss miteinander, sie haben sich sehr lieb, manchmal ist es fast zu viel, dann kleben sie so aneinander, dass es auch mal «chlöpft» – aber das ist ja überall so, das war bei meinem Bruder und mir nicht anders. Es ist jedenfalls sehr herzig zu sehen, wie sie sich umeinander kümmern.
In letzter Zeit fällt auf: Ihre Selbst-Vermarktung nimmt zu – haben Sie da etwas Neues entdeckt? Früher war das nicht gerade Ihre Lieblingsdisziplin …
Es könnte gut sein, dass noch Potenzial in mir schlummert. Deshalb probiere ich nun, etwas aktiver zu sein in diesem Bereich. Auch einmal etwas mehr zu zeigen von mir. Das dürfen auch einmal Ecken und Kanten und vor allem Dinge über mich als Person abseits des Rasens sein.
Was konkret haben Sie im Sinn?
Letzthin hatte ich beispielsweise ein Shooting, das Eindrücke aus meinem Leben neben dem Fussball zeigt. Oder wussten Sie beispielsweise, dass ich super gerne koche und ein absoluter Espresso-Liebhaber bin?
Ihr Blick auf meinen Cappuccino bedeutet nichts Gutes – es ist schliesslich 14:00 Uhr, da zieht es jemandem wie Ihnen, der so lange in Italien gewohnt hat, alles zusammen im Körper …
Keine Sorge, ich denke deswegen nichts Schlechtes von Ihnen!
Müssen Sie sich denn überwinden, mehr Nähe zuzulassen, beispielsweise auf Social Media?
Früher war ich schon nicht so der Typ dafür. Ich war ein zurückhaltender Charakter. Jetzt merke ich, wie ich offener geworden bin. Das kommt wohl mit dem Alter.
Eine letzte Frage: In Udinese erlitten Sie anfang 2017 einen Schädelbruch. Ist dieser vollständig verheilt? Oder spüren Sie im Alltag noch etwas?
Es war kein Schädelbruch, sondern «nur» ein Bruch der Stirn, der ersten Knochen-Schicht des Schädels gewissermassen. Innen ist alles verschont geblieben – zum Glück. Zu unterschätzen ist es trotzdem nicht. Es hätte sehr gefährlich sein können. Wenn ich nur noch einen Schlag zusätzlich kassiert hätte oder einen Kopfball gemacht hätte, hätte es übel enden können. Ich habe ja das Spiel noch fertig gemacht, es dauerte zwar nur noch zwei oder drei Minuten, aber trotzdem. Um auf die Frage zurückzukommen: Im Alltag spüre ich gar nichts mehr – ausser, ich bin erkältet.
Dann haben Sie Schmerzen in der Stirnhöhle?
Genau. Dann tut alles weh. Vielleicht auch wegen der Platte, die ich nun drin habe. Der Platz ist etwas beschränkt bei mir.
Diese Platte bleibt für immer?
Ja. Aber auch da gilt: Sie stört mich nicht. Weder im Alltag noch beim Fussballspielen. (aargauerzeitung.ch)