Es ist eine Geschichte, die einige in Verlegenheit bringt und andere verärgert. Enthüllt wurde sie vom Schweizer Mittelstreckencoach Louis Heyer, nachdem er die Teilnehmerliste für die Leichtathletik-Weltmeisterschaften in Eugene (USA) nächste Woche durchgesehen hatte.
Um das Problem zu verstehen, muss man zunächst die Auswahl-Modalitäten einer Leichtathletik-WM erklären. «Es gibt Mindestanforderungen und ein Ranking-System», sagt Heyer. «Nehmen wir zum Beispiel den 800-Meter-Lauf und stellen wir uns vor, dass World Athletics (früher: Internationaler Leichtathletik-Verband) festlegt, dass 48 Athleten für diesen Wettkampf zugelassen sind. Der Verband legt dann Mindestanforderungen fest, die erfüllt werden müssen, um sich zu qualifizieren. Wenn 20 Athleten diese erreichen, bleiben noch 28 Plätze frei. Diese werden nach einem Ranking-System vergeben.»
Die meisten Länder halten sich an die von World Athletics (WA) vorgegebenen Mindestanforderungen, nicht aber Frankreich. Unser westliches Nachbarland hat beschlossen, ihre eigenen Mindestanforderungen festzulegen, die noch strenger sind als die des Weltverbands.
Warum das Ganze? «Ich weiss es nicht. Es ist ein wenig dumm, aber das ist eine Entscheidung, die sie so treffen können», sagt Heyer. «Ich kann mir vorstellen, dass sie nur gute Athleten schicken wollen und nicht solche, die Gefahr laufen, in der ersten Qualifikationsrunde auszuscheiden.» Die Schweiz hatte bis 2009 ebenfalls eigene Mindestanforderungen, bevor das System geändert wurde. Dies begünstigte schliesslich auch den Aufstieg auf der internationalen Bühne. «Wir wollten allen eine Chance geben. Unsere Athleten dachten plötzlich, dass sie Grosses erreichen können, und das hat eine unglaubliche Dynamik ausgelöst.»
Die Qualifikationsphase für die Weltmeisterschaften in Eugene endete am 26. Juni. Länder mit eigenen Mindestanforderungen hatten bis zu diesem Datum Zeit, sich mit World Athletics in Verbindung zu setzen und die Namen der Athleten zu übermitteln, die sie nicht nominieren werden. Kurz gesagt: Die Sportler, die die Mindestanforderungen des internationalen Verbands erfüllt hatten, aber nicht die ihres Landes.
World Athletics kann dann alle diese Athleten aus seinen Listen streichen (da sie von ihrem Land nicht berücksichtigt werden, können sie nicht an den Wettkämpfen teilnehmen) und dafür Nachzügler einladen, sodass beispielsweise alle 48 Startplätze für den 800-Meter-Lauf vergeben werden.
Das Problem ist, dass Frankreich vergessen hat, die Namen der nicht nominierten Athletinnen und Athleten zu übermitteln. «Oder besser gesagt: Sie haben es aktiv nicht getan», korrigiert Heyer.
Warum? «Es handelt sich um administrative Faulheit», vermutet der Nationaltrainer. Diese Leichtfertigkeit hat Folgen für viele Sportler aus anderen Nationen. Nach Berechnungen des Bielers wurden 27 französische Athleten aus verschiedenen Disziplinen von World Athletics automatisch für die WM angemeldet, obwohl sie wegen der strengeren nationalen Richtlinien nicht nach Eugene reisen werden. Diese Plätze hätten an andere Länder vergeben werden können.
«Es wird also Lücken in den Startlisten mehrerer Disziplinen geben», fasst Heyer zusammen, der «einen Mangel an Respekt und Fairplay gegenüber anderen Nationen» beklagt. Es sei beschämend.
Da kommt natürlich die Frage auf, ob Frankreich absichtlich andere von der WM fernhält, um sich Gegner vom Leib zu halten. Das ist zwar grundsätzlich richtig, geht aber inhaltlich am Ende nicht ganz auf. Die Athleten, die von World Athletics nachnominiert worden wären, hätten sich in der Jahresbestenliste nicht weit vorne befunden. Niemand von ihnen hätte realistische Medaillenchancen gehabt und wäre somit auch keine Konkurrenz für die französische Nationalmannschaft gewesen.
Wurden auch Schweizer von der «administrativen Faulheit» unserer Nachbarn benachteiligt? «Nein», versichert Louis Heyer, der sich eher als Leichtathletik-Liebhaber denn als Mittelstrecken-Nationaltrainer sieht. Er weiss, dass seine Worte nichts ändern und dass die 27 Plätze, die Frankreich nicht wahrgenommen hat, nicht neu vergeben werden. Er macht das Problem nur öffentlich, damit eine Debatte über die Qualifikationsmodalitäten lanciert wird: «Es ist ein fehlerhaftes System. Es sollte nicht so sein, dass Länder Athleten zurückziehen müssen, welche die eigenen Richtlinien nicht erfüllt haben. Man sollte es umgekehrt machen: Am Ende der Qualifikationsphase übermittelt jeder Landesverband eine Liste von Athleten, welche die Mindestanforderungen des internationalen Verbands erfüllt haben und die sie auch an die WM schicken wollen.»
Romain Barras, technischer Direktor des französischen Leichtathletikverbands, reagierte nicht auf die telefonischen Anfragen von watson.