Am 14. Juli 2014 knattert ein Helikopter über Rohrbach bei Langenthal und setzt sanft auf dem Rasen bei der Turnhalle auf. Dominique Aegerter kommt vom Himmel her. Einem Himmel, der voller Geigen hängt. Am Vortag hat er den GP von Deutschland gewonnen. Nun feiert das Dorf seinen Töffhelden. Dominique Aegerter ist erst 23 Jahre alt und bereits ganz oben angelangt.
Bis heute haben erst zehn Schweizer einen GP gewonnen. Kurze Zeit später bekommt Aegerter das Angebot, 2015 in einem spanischen Privatteam auf Ducati die «Königsklasse» MotoGP zu bestreiten. Er entscheidet sich gegen diese verlockende Offerte und für den Verbleib in der Moto2-WM. Denn hier hat er realistische Chancen, die WM in den nächsten Jahren zu gewinnen.
Seither sind neun Jahre vergangen. Aufregende neun Jahre. Dominique Aegerters Karriere ist zwar nicht wunschgemäss linear nach oben verlaufen. Bis 2014 sind ihm die «Töffgötter» gnädig. Schritt für Schritt geht es nur in eine Richtung: Nach oben. Von schweren Unfällen bleibt er verschont.
Auf den ersten Blick denkt der Laie im Herbst 2023 beim Blick zurück: Dominique Aegerter hat aus dem Triumph von 2014 zu wenig gemacht. Aber auf den zweiten Blick erkennen wir: Den wahren, den besten Dominique Aegerter haben wir erst nach 2014 gesehen. Die Saison 2023 ist sogar seine beste überhaupt. Besser noch als das Jahr 2014.
Nach 2014 laufen die Dinge weitgehend ohne das Verschulden von Dominique Aegerter aus dem Ruder. Im November 2014 kommt Tom Lüthi als «ungebetener Gast» in sein Team. Der mit allen Wassern gewaschene 125er-Weltmeister beansprucht sofort die Führungsrolle, und bald dreht sich alles um den Emmentaler. Dominique Aegerter, zu sensibel und auch ein wenig zu naiv, um diesen Machtkampf zu gewinnen, bleibt nur die «Flucht»: Er wechselt 2017 ins Team von Jochen und Stefan Kiefer.
Bei den beiden Deutschen fühlt er sich wohl. In Misano gewinnt er im Oktober 2017 nach einem begeisternden Direktduell mit Tom Lüthi seinen zweiten Grand Prix. Der Sieg wird hinterher unter skandalösen Umständen wegen angeblich unerlaubten Zusatzstoffen im Getriebeöl annulliert. Kurz darauf stirbt Stefan Kiefer völlig unerwartet während des GP von Malaysia an einem Herzversagen. Inzwischen muss Dominique Aegerter eigenes Geld investieren, um einen Platz in einem Team zu bekommen. Im Herbst 2019 verlässt er nach einer glücklosen Saison in einem italienischen Team (MV Agusta) die GP-Bühne. Er ist zu diesem Zeitpunkt bereits 29 Jahre alt. Er hat die Zukunft hinter sich. Was nun?
In 99 von 100 Fällen ist eine internationale Töffkarriere ohne Auftritte auf der GP-Bühne zu Ende. Doch Aegerter findet einen Weg. Ein Jahr überbrückt er in der Rennserie mit den Batterie-Töffs (hier hat er immerhin eine kleine TV-Präsenz) und 2021 steigt er in die Superbike-Szene ein. Die wirtschaftliche Situation spielt eine entscheidende Rolle: Als ehemaliger GP-Pilot ist er in der Superbike-Szene ein begehrter Mann, muss sich nicht mehr in einem Team einkaufen und nicht mehr eigenes Geld investieren. Er ist nun wieder ein Fahrer, der bezahlt wird, und nicht mehr einer, der bezahlen muss. Das Grundgehalt ist zwar bescheiden, aber es locken Prämien.
Wie im GP-Zirkus (MotoGP, Moto2, Moto3) gibt es auch im Superbike-Business drei Klassen: Superbike, Supersport und Supersport 300. Der Unterschied: Das Medieninteresse konzentriert sich fast ausschliesslich auf den GP-Zirkus. Die Superbikes sind zwar anspruchsvoll und spektakulär. Aber die Rennen finden weitgehend unter Ausschluss einer grossen Sportöffentlichkeit statt: TV-Bilder gibt es nur bei privaten Nischensendern oder im Internet. Eine Berichterstattung in den Tagesmedien findet kaum statt.
Wem es unter diesen Umständen gelingt, weiterhin über die Töffszene hinaus im Gespräch zu bleiben, muss Aussergewöhnliches leisten. Genau das gelingt Dominique Aegerter. Er gewinnt auf Anhieb die Supersport-WM 2021 und verteidigt 2022 den Titel. Er gewinnt 27 von 44 Rennen und 2022 auch die Meisterschaft auf dem Batterie-Töff.
Er tritt zwar nicht mehr auf der grossen GP-Bühne auf. Aber er rockt auf der kleinen Bühne. Was ihm auch hilft: Er kann die Nummer 77 behalten, die er über die Jahre zu seinem Markenzeichen entwickelt hat. Eine «Marke» zu sein, ist im Sport immer hilfreich. Kommt dazu: Wer siegt, ist unabhängig von der Sportart interessant. Es hat ja sogar Zeiten gegeben, da interessierte sich unsere Sportöffentlichkeit für Kugelstossen. Weil Werner Günthör gewann. Der Seriensieger und Weltmeister Dominique Aegerter bleibt im Gespräch und wird am 30. Oktober 2022 sogar als Studiogast ins «Sportpanorama» des Schweizer Fernsehens eingeladen.
Dominique Aegerter ist im Herbst 2022 bereits 32 Jahre alt geworden und reitet dem Abendrot seiner Karriere entgegen. Eigentlich ist er zu alt für eine neue Herausforderung. Aber er wagt die ultimative Herausforderung: Er verlässt die Supersport-WM, die er weiterhin fast nach Belieben hätte dominieren können, und steigt in die Superbike-WM auf.
Es ist ein mutiger Schritt, der ihm nicht mehr Geld einbringt und ihn die TV-Präsenz auf den Batterie-Töffs kostet: Es ist nicht möglich, neben der Superbike-WM eine weitere Rennklasse zu bestreiten. Aegerter muss seine Energie bündeln. Aber es ist die Herausforderung, die ihn reizt. Er ist zweifacher Weltmeister und Seriensieger, und Yamaha gibt ihm die Chance in der «Königsklasse» der Superbike-Szene. Zusammen mit Remy Gardner, dem Moto2-Weltmeister von 2021, der nach einem gescheiterten MotoGP-Abenteuer zu den Superbikes wechselt, wird er in einem italienischen Team (GYTR GRT YAMAHA) platziert. Er muss sich in einer neuen Rennklasse zurechtfinden und sich gegen einen prominenten Teamkameraden behaupten.
Der Aufstieg von der Supersport- in die Superbike-WM ist so etwa wie das Umsteigen von einem Renntöff auf eine Höllenmaschine und mindestens so schwierig wie eine Promotion von der Moto2- in die MotoGP-Klasse. Die Superbike-Boliden werden von gut 240 PS angetrieben – 100 mehr, als die Triebwerke der Supersportklasse leisten. Die Höchstgeschwindigkeit ist um fast 50 km/h höher, auf den Geraden beschleunigen die Superbikes bis auf gut und gerne 330 km/h. Fahrerisch ist die Sache also höchst anspruchsvoll. Noch schwieriger ist die technische Herausforderung. Die seriennahen Supersport-Töffs sind weitgehend normiert, ohne Elektronik und technisch nicht besonders anspruchsvoll: Draufsitzen und Gas geben. Das reicht. Die Superbikes sind hingegen Hightech-Geräte mit hochkomplizierter Elektronik, die an den Fahrer ganz besondere Anforderungen stellen. Dominique Aegerter sagt es so: «Es gibt so viele Einstellungsmöglichkeiten, dass ungefähr 100 verschiedene Yamahas möglich sind …»
Beim Saisonstart ist klar: Eine Klassierung unter den ersten zehn der WM wäre ein riesiger Erfolg. Um das zu erreichen, müsste er einer der besten Neueinsteiger sein. Nun hat er am Wochenende die Saison mit dem 8. Schlussrang und zwei Podestplätzen abgeschlossen. Aegerter ist der «alte Löwe» der Superbike-WM. Mutig und leidenschaftlich wie eh und je («Domi Fighter»), und dank seiner immensen Erfahrung aus mehr als 300 Rennen auf WM-Niveau in der Lage, das Risiko richtig einzuschätzen. Er ist nicht nur einer der schnellsten, er ist auch einer der verlässlichsten, sichersten Piloten.
Der Weg auf den 8. Platz war ein schwieriger. Mitte Mai musste Aegerter sich einer Operation des rechten Unterarms unterziehen, um seine «Armpump-Probleme» zu lösen – Beschwerden, die viele Rennfahrer plagen: Durch starke Muskelbildung im Unterarm entsteht zu viel Druck auf die Nervenbahnen. Mehrere «Top Ten»-Klassierungen verliert er durch technische Unzulänglichkeiten. Er dürfe nicht sagen, was da technisch genau passiert sei. Das müsse teamintern bleiben. «Es war sozusagen menschliches Versagen …» Also Pfusch der Techniker, die trotz Anweisung vergessen, die Kupplung zu wechseln. Dreimal wird er «abgeschossen», also von einem hinter ihm fahrenden Piloten zu Fall gebracht. Der Albtraum jedes Fahrers. Diese drei unverschuldeten Unfälle (für die in einem Fall der Unfallverursacher bestraft worden ist) sind der Grund für eine vorübergehende Flaute. Und viel Glück hat er auch gehabt: VOR dem Rennwochenende in Magny Cours stürzt er spektakulär und kommt weitgehend ungeschoren davon. Bei einem Schabernack, einem Rasenrennen für Amateure vor der eigenen Haustüre in Koppigen. Weil vor ihm ein bereits überrundeter Fahrer aus dem Sattel purzelte.
Im Laufe der Jahre hat sein Bruder Kevin so viel Erfahrung gesammelt, dass er sich im Fuchsbau des internationalen Töffrennsportes inzwischen bestens zurechtfindet: Er hat das Management übernommen, und so sind Ruhe und Berechenbarkeit im Umfeld zurückgekehrt. Wenn wir alles berücksichtigen – Alter, die schwierigen Umstände, das hohe technische und fahrerische Niveau der Superbike-WM – dann haben wir 2023 den bisher besten Dominique Aegerter gesehen. Die Verantwortlichen von Yamaha wissen die Qualitäten des Rohrbachers sehr wohl zu schätzen und haben den Vertrag um eine weitere Saison für die Superbike-WM 2024 verlängert.