Höllenmaschine. Die Bezeichnung ist nicht einmal übertrieben. Dominique Aegerter fährt 2023 wahrlich eine Höllenmaschine wie nie zuvor in seiner Laufbahn. Die Superbike-Monster gehören zum Extremsten, was der Mensch je auf zwei motorisierte Räder gestellt hat. 240 PS, etwas mehr als 200 Kilo Gewicht und eine Spitzengeschwindigkeit von über 300 km/h. Fahrbare Apparate, die durchaus vergleichbar mit den noch etwas schnelleren, weil leichteren MotoGP-Boliden sind.
Nur mithilfe der Computertechnik (Elektronik) ist es für den Fahrer möglich, die infernalischen Motorenkräfte zu bändigen, die auf der Fläche einer Kinderhand auf den Asphalt übertragen werden und dazu führen, dass das Hinterrad bei der kleinsten Drehung am Gasgriff durchzudrehen droht. Dominique Aegerter sagt: «Eigentlich ist es gar nicht möglich, die Motorenleistung einer solchen Maschine ganz auszureizen.» Letzte Saison hatte er in der Supersport-WM noch gut 100 PS weniger zu bändigen.
2023 also zum ersten Mal in der Superbike-WM. Dominique Aegerter steht im Alter von 32 Jahren vor der grössten Herausforderung seiner Karriere. Was dürfen wir erwarten? Der Rohrbacher bekommt in einem der besten Teams konkurrenzfähiges Material (Yamaha). Die technische Betreuung ist optimal. Der Vertrag mit Yamaha ist gut dotiert. Er muss nicht mehr von Pontius zu Pilatus rennen, um seine Rechnungen zu bezahlen, darf weiterhin auf die Unterstützung treuer Sponsoren zählen. Und er braucht kein eigenes Geld mehr ins Team zu bringen wie während der Abendröte seiner Moto2-Karriere zwischen 2016 und 2020.
Erfüllt er die Erwartungen, dann muss er sich keine quälenden Sorgen um die nächsten zwei, drei Jahre machen. Und doch gibt es viele Unbekannte: eine neue Kategorie. Ein neues Team. Mit dem Umstieg von einer 600er- auf eine 1000er-Viertaktmaschine eine neue Technologie. Mit dem Australier Remy Gardner (24) ein junger, hungriger Teamkollege. Und natürlich eine sehr starke Konkurrenz: Die Leistungsdichte in der Superbike-WM ist viel höher als zuvor in der Supersport-WM und eher noch herausfordernder als einst in der Moto2-Klasse. Der Aufstieg in die Superbike-WM erfordert eine Konzentration der Kräfte. Es ist nicht mehr möglich – wie in den letzten drei Jahren –, nebenbei den MotoE-Weltcup zu bestreiten.
Dominique Aegerter kommt mit schweren Maschinen gut zurecht. Das hat er in der Vergangenheit bei seinen Einsätzen etwa beim Acht-Stunden-Rennen von Suzuka, der prestigeträchtigsten Töff-Veranstaltung in Japan, oder bei den Suzuki-Tests mit der GP-Maschine im letzten Jahr immer wieder bewiesen.
Er ist topfit und diese Fitness ermöglicht ihm eine hohe Konzentrationsfähigkeit und damit Konstanz in den Rennen, die sich auch daran zeigt, dass er sehr wenig stürzt. Es gibt nicht viele Fahrer, die so wenig Fehler machen. Und je enger die Rennen, desto besser: Dominique Aegerter hat auch dank seiner immensen Erfahrung einen hoch entwickelten «Renninstinkt». Die Fähigkeit, Situationen blitzschnell zu erkennen, richtig einzuschätzen und kaltblütig auszunützen.
Berücksichtigen wir alle Faktoren, dann kann Dominique Aegerter von allem Anfang an in die Top Ten fahren. Klassierungen in den ersten sechs oder gar Podestplätze sind in der zweiten Saisonhälfte nicht unmöglich, wären aber sportliche Heldentaten. Vergleichbar mit einem Sieg in der Moto2-WM. Die ersten Testfahrten stimmen zuversichtlich: Dominique Aegerter war bei aussagekräftigen Tests der schnellste Neuling und – ganz wichtig – schneller als sein Teamkollege Remy Gardner. Eine alte Rennsport-Regel sagt: Der erste Gegner, den ein Fahrer besiegen muss, ist der Teamkollege.
Da die Rennen der Superbike-WM von unserem staatstragenden Fernsehen nicht übertragen werden (gezeigt wird der GP-Zirkus) und die Medienpräsenz auch sonst gering bleibt, ist die öffentliche Beachtung der Superbike-WM viel geringer als etwa jene der Moto2-WM. Und auch geringer als die Rennen um den Batterie-Weltcup (MotoE), ein Rahmenprogramm im GP-Zirkus. Dominique Aegerter wird weniger im medialen Scheinwerferlicht stehen als in den letzten Jahren.