Neuseeland hat nur etwas mehr als fünf Millionen Einwohner und schreibt im Sport meistens kleinere Geschichten. An Olympischen Spielen hat es nicht ganz halb so viele Medaillen gewonnen wie die etwas grössere Schweiz. Meistens steht das Land im Schatten von Australien, des 4500 Kilometer entfernten grossen Nachbarn auf der anderen Seite des Tasmanischen Meeres.
Im Rugby aber ist Neuseeland ein Riese. Das schwarze Trikot mit dem silbernen Farn der «All Blacks» ist in diesem Sport so bedeutungsvoll wie das gelb-grüne der brasilianischen Fussballer. Beide Tenüs stehen für aussergewöhnliche spielerische Klasse, aber auch für eine Grundeinstellung – Brasilien für das «Jogo Bonito», das schöne Spiel, Neuseeland für einen unbändigen Siegeswillen.
Gegen keine Nation haben die «All Blacks» eine negative Bilanz, über 75 Prozent ihrer Spiele haben sie gewonnen und seit die Weltrangliste 2003 eingeführt wurde, stand Neuseeland gut 80 Prozent der Zeit an deren Spitze. Viele der bekanntesten Rugby-Spieler sind Neuseeländer, mit Jonah Lomu, dem 2015 mit 40 Jahren verstorbenen Flügelspieler, ist der wohl berühmteste ein ehemaliger «All Black».
Dass trotz dieser Dominanz an den Weltmeisterschaften erst 2011, also im siebten Versuch, der zweite von nunmehr drei WM-Titeln heraussprang, hat wohl eben mit der Ausnahmestellung des Teams zu tun. In der Heimat werden die Leistungen der «All Blacks» das ganze Jahr hinweg kritisch beäugt und schwächere Phasen lösen rasch Grundsatzdiskussion aus. Gemessen werden die aktuellen Spieler nicht nur an den Resultaten, sondern auch an ihren Vorgängern.
Der aktuelle Captain Sam Cane musste sich in den letzten drei Jahren einiges anhören, von Experten, ehemaligen Spielern und Fans. Die Messlatte für den Leader der «All Blacks» ist hoch. Richie McCaw, der zwischen 2001 und 2015 Captain war, führte Neuseeland 2011 mit einem gebrochenen Fuss zum WM-Titel. Selbst innerhalb der Mannschaft wusste kaum einer von seiner Verletzung.
Dass Aussergewöhnliches verlangt wird, wenn man für die «All Blacks» spielt, merken die Neuen rasch. Die arrivierten Spieler begrüssen die Debütanten einzeln, und machen einen Haka, den traditionellen Tanz der Maori, um sie willkommen zu heissen, erzählte der frühere Internationale Richard Kahui der «BBC». Danach sei man aufgenommen und werde so behandelt wieder jeder andere im Team.
Seine persönliche Geschichte im Nationalteam soll jeder Spieler in einem kleinen schwarzen Buch festhalten, das er an seinem ersten Tag für die «All Blacks» erhält. Auf den ersten Seiten ist die fast 140-jährige Geschichte der Mannschaft beschrieben, und es wird erklärt, wie die Liebe zum Trikot die verschiedenen Kulturen Neuseelands verbunden hat. Danach folgen leere Seiten für das Festhalten der eigenen Errungenschaften.
Die «All Blacks» nehmen ihre Rolle ausserhalb des Feldes als neuseeländische Botschafter ernst. Von ihrem WM-Trainingscamp in Lyon aus beteiligten sie sich seit Anfang September immer wieder am sozialen Leben der Region. Aktuelle und ehemalige Spieler besuchten einen Fussballmatch, weihten eine vom neuseeländischen Verband der Stadt Lyon geschenkten Sitzbank ein und spielten in einer Schule mit den dortigen Jugendlichen Rugby. Vor dem letzten Spiel der Vorrunde trainierten die Stars mit 200 Kindern und vor 5000 Zuschauern.
Alle Efforts ausserhalb des Feldes hätten die «All Blacks» nicht vom Donnerwetter aus der Heimat retten können, wenn am letzten Wochenende nicht der Sieg im Viertelfinal gegen Irland bewerkstelligt worden wäre. Gegen die Nummer 1 der Weltrangliste brillierte Neuseeland spielerisch nicht wie zu seinen besten Zeiten. Aber es zeigte den Siegeswillen und die Bereitschaft, sich allen Widrigkeiten zu stellen.
Sam Cane ging gegen die von 60'000 Fans im Stade de France unterstützen Iren mit gutem Beispiel voran und trug mit seinen 21 Tackles entscheidend zum kleinen Coup bei. Sein schwarzes Buch könnte nach mutmasslich eher düsteren Einträgen in diesem Monat die schönsten Kapitel erhalten. Am Freitag wartet die Pflichtaufgabe gegen Argentinien und am Samstag in einer Woche womöglich das finale Gipfeltreffen mit dem anderen dreifachen Weltmeister Südafrika. (nih/sda)