Es ist der letzte beschauliche Tag im Trainingslager der norwegischen Techniker. Noch ahnt niemand, welche Aufregung das Team um die angehenden Ski-Superstars Lucas Braathen, Atle Lie McGrath und Alexander Steen Olsen nur Stunden später befallen wird und bis zum allerletzten WM-Tag nicht wirklich abklingt.
Die acht Fahrer und zwölf Betreuer nehmen in ihrer Unterkunft, dem Berggasthof Hinterreit im Salzburger Hinterland, gemeinsam das Mittagessen ein. Es ist eine bescheidene Behausung. Die Jauchegrube des angebauten Bauernhofs ersetzt den Wellness-Bereich. Die beiden Skilifte des aus zwei Pisten bestehenden Mini-Skigebiets laufen meistens leer.
Die Norweger sind trotzdem Dauergäste in dieser Abgeschiedenheit. Denn der Herr des Hauses ist bekannt als besonders talentierter Pistenbauer und die Steilheit des Geländes lässt Trainings in Weltcup-relevanter Umgebung zu. Wartezeiten gibt es hier nicht.
Das norwegische Team isst im gleichen Raum wie die Tagesausflügler und die wenigen Wanderer, welche den Weg hierher finden. Die Skistars werden kaum erkannt, so wie sie es sich trotz der jüngsten Erfolge aus ihrer Heimat gewohnt sind.
Denn als nur Stunden später die Meldung über WhatsApp eintrifft, Lucas Braathen sei ins Spital eingeliefert worden und anschliessend nach erfolgter Blinddarm-Notoperation der Wettlauf mit der Zeit um eine WM-Teilnahme im Slalom beginnt, geniesst dieses Drama in den norwegischen Medien nur zweite Priorität. Die Schlagzeilen gehören den Helden der laufenden Biathlon-WM und der anstehenden Titelkämpfe der Langläufer und Skispringer.
Und als Braathens Belastungstest auf der Weltcuppiste von Kvitfjell diesen Montag dann doch von einer Gruppe Journalisten verfolgt wird, gilt der mediale Fokus weniger dem Gesundheitsstatus des dreimaligen Saisonsiegers als vielmehr dessen Beziehungsstatus. Braathen beziffert die Chance auf einen WM-Start auf «über 50 Prozent» und beschreibt sein Liebesleben als «irgendwo zwischen Single und Beziehung».
So sind die Relationen im Land der nordischen Skisportler. Umso erstaunlicher, weil die Alpinen seit gut 30 Jahren wie verrückt liefern. Obwohl stets nur mit einzelnen Ausnahmekönnern unterwegs, stellt Norwegen zwischen 1992 und 2018 bei Olympia immer mindestens einen Olympiasieger bei den Männern.
Und an den vergangenen 16 Weltmeisterschaften gab es stets zwischen einer bis maximal sieben Medaillen. Namen wie Atle Skardal, Lasse Kjus, Kjetil André Aamodt, Aksel Lund Svindal oder Kjetil Jansrud brannten sich tief ins Gedächtnis jedes Skiexperten ein.
Was man mit Norwegens Skifahrern neben der schier unglaublichen Bilanz an Grossanlässen auch assoziiert, sind ihr einwandfreier Charakter und das bescheidene Auftreten. Eigenschaften, die nicht dem Zufall entspringen und von Generation zu Generation weitergegeben werden.
Atle Lie McGrath, der nach seinem Sturz im Super-G der WM die Medaillenjagd aufgrund einer Knieverletzung abbrechen muss, erzählt im Berggasthof Hinterreit, mit welchen Worten er und Lucas Braathen bei ihrem ersten Zusammenzug im Elite-Team von Kjetil Jansrud empfangen wurden: «Ob du Olympiasieger oder Debütant im Europacup bist, ist nicht wichtig. In unserem Team ist jeder Mensch gleich viel Wert».
Lucas Braathen ging das Zelebrieren dieses Teamkults und die bewusste Philosophie, so viel Zeit miteinander zu verbringen wie möglich, immer wieder mal zu weit. Ihm ist enorm wichtig, seine Individualität auszuleben. So sagt er auch: «Ich könnte nie mit jemandem liiert sein, der selbst auch Spitzensport betreibt, geschweige denn Skirennen fährt.» Mit bemalten Fingernägeln und einem extravaganten Kleiderstil drückt er die Persönlichkeit auf seine ganze eigene Weise aus.
Lucas Braathen und Atle Lie McGrath gelten, obwohl charakterlich völlig verschieden, als kongeniale Ski-Zwillinge. Sie sind auf zwei Tage genau gleich alt und kennen sich seit den gemeinsamen sportlichen Anfängen im Skiclub Baerums im Norden der Hauptstadt Oslo.
Und mit dem ein Jahr jüngeren Junioren-Doppelweltmeister (Slalom und Riesenslalom) Alexander Steen Olsen steht bereits das nächste norwegische Juwel in den Startlöchern. Aus stolzen acht Fahrern besteht aktuell das Technikteam. Und jeder kann um die Podestplätze mitreden.
Was bei den Jungspunden der norwegischen Rasselbande auffällt, ist ihre Selbstständigkeit und charakterliche Reife. Tugenden, die bewusst gefördert werden, wie Trainer Michael Rottensteiner betont. Es fängt damit an, dass beim Gespräch des ausländischen Journalisten mit den knapp 20-Jährigen niemand als Aufpasser dabei ist und auch kein Presseverantwortlicher die Zitate gegenlesen will.
Die Jungen sollen Verantwortung für ihre Taten und ihre Worte übernehmen. Das gehöre zur norwegischen Lebensschule im Sport, erklärt Rottensteiner, der in der siebten Saison in Diensten des norwegischen Skiverbandes steht.
«Der Weg zum Siegfahrer wird gestaltet von Fairness, harter Arbeit und keinem Erfolg um jeden Preis», erklärt der Chef. «An diesem Grundsatz wird seit Generationen nicht gerüttelt.» Zudem sei für Norwegens Sport typisch, «dass selbst nach einer Saison des maximalen Erfolgs alles hinterfragt wird».
Man müsse sich als junger Alpin-Athlet in Norwegen auch alles erkämpfen. Rottensteiner nennt als Beispiel das Europacupteam mit nur 350 Stellenprozenten für das Betreuerteam. «Da muss ein junger Fahrer die Ski schon mal selbst präparieren. Diese frühe Eigenständigkeit hilft langfristig.»
Zu seinen Kronjuwelen sagt der Österreicher, der mit seinen 34 Lenzen ein Jahr jünger ist als sein Athlet Leif Kristian Nestvold-Haugen («In der Schweiz oder in Österreich wäre ich so jung nie Cheftrainer geworden.»), er müsse ab und zu selbst aufpassen, «nicht zu vergessen, wie jung sie noch sind».
Im Gespräch mit den Supertalenten kommen erstaunliche Parallelen zum Schweizer Überflieger Marco Odermatt zu Tage. Auch bei Braathen und McGrath stand ein Vater am Beginn der Karriere. Auch sie erlernten ihre Ausnahmetechnik in Jugendjahren vor allem abseits der Pisten und ohne Tore im tiefen Schnee. Und auch sie gewannen im Juniorenalter praktisch nie. «Das Gefühl loszuwerden, nicht der Beste zu sein, war über all die Jahre eine grosse Motivationsquelle», sagt Atle Lie McGrath.
Das frühzeitige WM-Aus hat wenigstens zur Folge, dass McGrath diese Motivationsquelle nicht verlieren wird. Während der 22-Jährige in diesen Tagen von Frankreich heim nach Norwegen zur Therapie fuhr, nahm Zwilling Lucas Braathen am Mittwoch den umgekehrten Weg ein. Er will am Sonntag seine Serie von vier Podestplätzen im Slalom trotz der dramatischen Vorgeschichte verlängern. Auch wenn er sagt: «Es steht in keinem Lehrbuch, dass man Tage nach einer solchen Operation Ski fahren soll.»