Am letzten Wochenende ging für Lucas Braathen und seinen «Ski-Zwilling» Atle Lie McGrath ein Traum in Erfüllung. Der 22-jährige Braathen gewann vor seinem gleichaltrigen Landsmann den Slalom von Adelboden. Nun reist Braathen als Führender der Slalomwertung nach Wengen zum nächsten Klassiker.
Doch nicht nur auf der Piste sticht er heraus. Auch durch lackierte Fingernägel, auffällige Sonnenbrillen und einen ganz eigenen Kleidungsstil zieht er die Blicke auf sich. Wir haben ihn an einem trainingsfreien Tag im Teamhotel besucht.
Sie haben in Adelboden gewonnen, sind in der laufenden Saison der beste Slalomfahrer und Vierter im Gesamtweltcup. Wie fühlen Sie sich aktuell?
Lucas Braathen: Grossartig. Es ist cool, Rennen zu fahren, wenn man weiss, dass man Chancen auf die obersten Plätze hat und der grösste Herausforderer sein kann. Das macht einfach Spass.
Den letzten Sonntag bezeichneten Sie als grössten Tag Ihrer Karriere. Was hat den Sieg in Adelboden so speziell gemacht?
Ich habe eine spezielle Beziehung mit Adelboden, hatte dort meine erste grosse Verletzung, habe den Riesenslalom noch immer nicht richtig in den Griff bekommen. Letztes Jahr musste ich vor dem Steilhang abbrechen, noch am Samstag bin ich ausgeschieden. Dann einen Tag später zurückzukommen, mich am Berg «rächen» zu können, ihn in gewisser Weise zu bezwingen, war unglaublich speziell. Ausserdem ist Adelboden eines der legendärsten Rennen überhaupt.
Und dann war Ihr Teamkollege und Freund Atle Lie McGrath auch noch Zweiter.
Genau. Diesen Erfolg mit ihm teilen zu können, davon haben wir immer geträumt. Dass es dann genau in Adelboden passiert, ist einfach unglaublich.
Sie haben über Ihre Verletzung in Adelboden, in Folge derer Sie den Rest der Saison verpasst haben, gesprochen. Wie gehen Sie mit solchen Rückschlägen um?
Ich habe in dieser Zeit viel gelernt. Die wichtigste Lektion war aber, die Situation zu akzeptieren, in der man ist. Man ist sowieso in einer beschissenen Lage und kann nichts mehr daran ändern. Der einzige Weg, so schnell wie möglich da herauszukommen, ist zu erkennen, welchen positiven Effekt das haben könnte. Ich glaube, ohne die Verletzung wäre ich nicht der Skifahrer, der ich heute bin und könnte auch nicht in Adelboden gewinnen. Gewisse Dinge kann man nicht lernen, wenn alles immer glattläuft.
Wie sehr hat Ihnen McGrath, der sich im selben Rennen ebenfalls verletzt hat, in dieser Zeit geholfen?
Die Zeit nach einer Verletzung ist eigentlich sehr einsam und kommt einem extrem lang vor. Aber für mich war es anders, weil ich immer mit Atle trainieren konnte und wir uns gegenseitig motivieren konnten. Es war eine einzigartige Situation, vor allem, weil er es war.
Sie sind nur zwei Tage älter als McGrath, weshalb Sie auch die «Ski-Zwillinge» genannt werden. Wie würden Sie Ihre Freundschaft beschreiben?
Es ist eine sehr interessante Freundschaft, denn ohne das Skifahren wären wir wohl nie Freunde geworden. Wir kennen uns, seit wir elf Jahre alt sind, und wir haben früh erkannt, dass wir grosse Ziele haben und hart dafür arbeiten wollen. Darin ähneln wir uns, aber ansonsten sind wir extrem unterschiedlich. Wir haben neben dem Sport komplett andere Interessen und auch unsere Freundeskreise sind völlig unterschiedlich. Trotzdem liebe ich ihn. Ich denke auch, dass das unsere Freundschaft erst so schön macht, denn unsere Schwächen und Stärken ergänzen sich perfekt. So können wir viel voneinander lernen.
Was sind denn Ihre Schwächen?
Mein Temperament. Ich werde besser, aber ich kämpfe am meisten damit, nicht wütend zu werden, wenn etwas im Training nicht klappt oder ich ein Ziel nicht erreiche. Da ist Atle anders und das beeindruckt mich am meisten an ihm. Zum Beispiel, wie er in Adelboden aufs Podest gefahren ist nach dem vielen Pech, dass er in dieser Saison hatte. Dass er sich nicht unterkriegen lässt, weiter daran glaubt, der Beste sein zu können, und dann zwei so starke Läufe herunterbringt, hat mir sehr imponiert. Da sieht man seine Stärke und davon versuche ich auch zu lernen.
Sie stechen nicht nur aufgrund ihres Talents auf der Piste heraus, sondern auch mit Ihrem Style daneben. War das schon immer so?
Es hat viel Zeit gebraucht, bis ich mich auf diese Art und Weise ausdrücken konnte. Ich habe es immer gefühlt, aber ich hatte Angst, wie andere um mich herum darüber urteilen würden, und als Kind ist man ja eh immer etwas unsicher. Ich bin zwar in einem sehr diversen Freundeskreis aufgewachsen, aber in der Welt, in der ich leben wollte – der Ski-Welt –, war die Akzeptanz dafür nicht besonders gross. Das hat diese Seite von mir immer etwas unterdrückt. Auch weil der Weg ins Nationalteam in Norwegen sehr schwierig ist, wir keine Juniorenteams und auch noch kein Europacup-Team hatten. So war ich stark vom Verband und den Meinungen anderer abhängig, um Rennen fahren zu können. Das hat mir auch ein bisschen die Freude genommen.
Am Nebentisch erkennt eine Gruppe älterer Leute den Sieger vom letzten Sonntag. Man merkt, wie natürlich Braathen mit dieser Aufmerksamkeit umgeht. Er freut sich darüber, bedankt sich mit einem Lachen für die Glückwünsche, und widmet sich dann wieder dem Interview.
Was musste passieren, damit Sie sich trauten, auch diese Seite von Ihnen zu zeigen?
Als ich zum Nationalteam stiess und erste Erfolge verzeichnete, dachte ich mir: «Holy Shit! Zum ersten Mal bin ich von niemandem abhängig, andere Leute und der Verband hängen jetzt unter anderem von mir ab.» Also habe ich mich gefragt, weshalb ich versuche, es diesen Leuten recht zu machen und ihre Erwartungen zu erfüllen. Das machte mich nämlich nicht glücklich, sondern vielmehr unglücklich. So konnte ich mich auch dank der Unterstützung meiner Freunde langsam wandeln. Bis dahin habe ich mich selbst nicht wirklich gekannt, dann habe ich gemerkt: «Das bin ich und wenn es jemandem nicht gefällt, ist das deren Problem!»
Wie fielen die Reaktionen aus?
Es war von allem etwas dabei. Es gab Menschen, die mich stark unterstützt haben, sich dafür bedankten, dass ich frischen Wind in die Branche bringe und mehr Akzeptanz geschaffen habe. Es gab aber auch Leute, die es unprofessionell, ablenkend und fehl am Platz fanden. Ich sei kein gutes Vorbild für Kinder, die sich voll aufs Training konzentrieren sollten. Und eine dritte Gruppe von eher traditionellen Leuten hielten es für «schwul» oder «feminin». Für mich ist es aber einfach ein cooler Weg, mich auszudrücken. Es gibt immer noch Leute, die mein Auftreten stört und das freut mich, weil ich dann weiss, dass ich sie gezwungen habe, darüber nachzudenken.
Ist es auch ein Ziel von Ihnen, in dieser Hinsicht etwas zu verändern?
Definitiv. Ich hoffe, dass, wenn ich mir selbst treu bleibe und mich nicht beuge, auch Kinder dazu inspirieren kann, sich ebenfalls zu trauen, ihre Persönlichkeit offen zu zeigen. Das ist mein grösstes Ziel.
Sie haben eine brasilianische Mutter. Haben Sie auch mal Fussball gespielt?
Damit hat es angefangen. Ich war ein faules Kind, hasste es aktiv zu sein. In Brasilien entdeckte ich dann aber den Fussball – nicht als Sport, sondern als Lebenseinstellung. Es ging nicht in erster Linie darum, der Beste zu sein, sondern um die Freude. Dann habe ich eine Nike-Werbung mit Ronaldinho, Ronaldo, Ibrahimovic und all diesen Legenden gesehen. Dort ging es darum, eine Geschichte zu erzählen. Diese Spieler waren die grösste Inspiration, die ich haben konnte und sie sind es immer noch. Ich wollte nie an der Spitze einer Rangliste sein, ich wollte in einem solchen Video sein, Teil einer Werbekampagne sein, die eine Geschichte erzählt und ein Kind dazu bewegt, das zu tun, was es möchte. So wie es bei mir war.
Und wie sind Sie dann zum Skifahren gekommen?
Mein Vater war Freeskier und ist um die Welt gereist, um Ski zu fahren. Er hat mich dazu gebracht. Und dann habe ich mich in die Kultur verliebt. In Norwegen hatte ich nie ein richtiges Zuhause, wir sind häufig umgezogen. Beim Skifahren lernte ich dann Leute aus dem ganzen Land kennen, alle sprachen anders, sahen anders aus, hatten unterschiedliche Meinungen und so war ich plötzlich nicht mehr der neue Junge in einer neuen Schule, kein Aussenseiter mehr. Das fand ich sehr cool, weil es nicht seltsam war, seltsam zu sein.
Wann entschieden Sie, dass sie sich voll auf Ski fokussieren sollten?
Als ich etwa zehn Jahre alt war, ein Jahr, nachdem ich angefangen hatte.
Das ist schnell. Weshalb fiel die Entscheidung fürs Skifahren und gegen das Fussballspielen?
Das hatte auch etwas mit meinem Temperament zu tun. Ich wollte mich nicht auf andere verlassen müssen, um Erfolg zu haben. Ich wollte alle Schuld auf mich nehmen, wenn ich schlecht war, und ich wollte den ganzen Erfolg, wenn ich die Arbeit investierte, die es benötigt.
Sie haben über Idole ausserhalb des Skisports gesprochen, hatten Sie auch Ski-Idole?
Mein grösster Kindheitsheld war Ted Ligety. Er hat das Skifahren komplett verändert, ist anders gefahren als alle anderen und dominierte die Riesenslaloms plötzlich. Es war das erste Mal, dass ich jemanden gesehen habe, der den Skisport von Grund auf verändert hat. Das hat mich wohl stärker inspiriert als alles, was sonst jemand in unserem Sport getan hat. Später war es Marcel Hirscher, der Grösste aller Zeiten. Bei ihm begeisterte mich seine Konstanz, seine Fähigkeit sich anzupassen und immer an der Spitze zu sein. Und von der Persönlichkeit mochte ich Felix Neureuther sehr, und jetzt meinen Teamkollegen Aleksander Aamodt Kilde. Er ist für mich ein Vorbild, weil er der bestmögliche Teamkollege ist.
Sie sprechen Hirscher an. Er dominierte die technischen Disziplinen, fuhr dann aber auch immer mehr Super-Gs und gar einige Abfahrten. Wie sehen Ihre Pläne in dieser Hinsicht aus?
Ich hasse Abfahrten, die werde ich nicht fahren. Aber ich versuche, die Anzahl an Super-Gs langsam zu steigern. Wegen des guten Resultats in Beaver Creek (er wurde 7., Anm.d.Red.) darf ich an der WM im Super-G und der Kombination mitfahren, was der Wahnsinn ist. Danach werde ich auch in Aspen dabei sein und ab der nächsten Saison will ich schauen, was der Kalender erlaubt und mehr und mehr Rennen fahren.
Wenn man im Skifahren über die Zukunft spricht, schwingt immer auch etwas Ungewissheit mit. Machen Sie sich Sorgen um den Ski-Weltcup?
In jedem Fall. Es macht mir schon Angst. Adelboden war ein perfektes Beispiel, wir sind auf so viel Schnee gefahren (zeigt mit Zeigefinger und Daumen rund zehn Zentimeter). Es war reines Glück, dass wir das Rennen fahren konnten. Die FIS muss den Kalender neu gestalten.
Wie könnte ein neuer Kalender aussehen?
Wir können nicht so früh in Europa starten, ausser auf dem Gletscher in Sölden. Aber danach müssen alle in die USA, wo hohe Minustemperaturen herrschen und der Schnee hervorragend ist. Und dann können wir nach Europa zurückkehren und all die Klassiker durchführen. Aber beispielsweise die Parallelrennen in Lech, die sozusagen nie stattfinden oder die Speedrennen, die in Zermatt geplant waren, erlaubt die Umwelt und das Klima nicht mehr. Deshalb muss die FIS da etwas verändern, und wenn sie das tut, wird unser Sport weiterleben.
Wie fühlen Sie sich, wenn wie in Adelboden rechts und links von der Piste alles grün ist?
Am Tag des Rennens ist das natürlich mein letzter Fokus. Aber für den Sport ist es schon besorgniserregend. Leute reisen in die Alpen, um Schnee und weisse Berge zu sehen, und dann ist dort kein Schnee. Sie können selbst nicht mal Ski fahren, das ist schon komisch. Und es geht ja auch darum, unseren Sport zu bewerben, denn Skifahren ist eine der coolsten Aktivitäten, die es auf der Welt gibt. Wenn neben der Piste dann alles grün ist, macht das die Fernsehbilder und unseren Sport kaputt – das bereitet mir Sorgen.
Nun steht Wengen an, wo es in dieser Woche noch einmal geschneit hat. Noch konzentrieren Sie sich auf den Slalom. Können wir nächste Saison auch im Super-G mit Ihnen rechnen?
Ich denke schon. Das wäre ein sinnvolles Zusatzrennen, weil wir ja eh hier sind.
Wie sehr beeindruckt sie in dieser Hinsicht ein Marco Odermatt, der den Riesenslalom dominiert, aber auch in Super-G und Abfahrt um Siege fährt?
Es ist absurd. Seit Marcel Hirscher habe ich so etwas nicht gesehen. Seine Anpassungsfähigkeit gefällt mir am besten. Im Riesenslalom kämpft er immer um Siege, egal, wie der Schnee, das Gelände, die Länge der Läufe ist. Das können nur die wenigsten auf diesem Level. Und es dann auch noch in Speed-Rennen in der heutigen Zeit zu tun, wo sich viele auf einzelne Disziplinen konzentrieren, um ihre Chancen auf eine kleine Kristallkugel zu verbessern, ist verrückt mitanzusehen. Ich habe extrem grossen Respekt vor ihm.
Können Sie sich als Konkurrent von ihm auch etwas abschauen?
Klar. Ich sehe mir jeden an, der das Rennen gewinnt – und Marco gewinnt die Mehrheit. Also natürlich lerne ich eine Menge von ihm. Ich habe schon immer, sei es im Fussball oder dann im Skifahren in meiner Jugend und auch heute, die Leute analysiert, die gewinnen. So will ich herausfinden, was ihr Erfolgsfaktor ist.
Für die Speed-Spezialisten ist die Abfahrt am Lauberhorn einer der grossen Klassiker im Skikalender. Wie ist das bei euch Slalom-Fahrern?
Für mich ist es das auch. Der Wengen-Slalom ist verrückt, auch mit meiner eigenen Geschichte dort, wie ich letztes Jahr Historisches erreichte in einem einzigartigen Rennen, das ich nie vergessen werde (Braathen gewann das Rennen nach dem 29. Platz im 1. Lauf, Anm. d. Red.). Jetzt dorthin, wo einer der coolsten Tage in meiner Karriere stattfand, zurückzukehren, ist der Wahnsinn. Ich weiss, wie toll sich ein Sieg dort anfühlt und das will ich wieder erreichen.
Welche Chancen rechnen Sie sich in diesem Jahr aus?
Mein Selbstvertrauen ist im Moment so hoch wie noch nie. Mit meiner Geschichte dort und meinem Sieg in Adelboden fühle ich mich besser als je zuvor und das rote Leibchen zu tragen, ist sowieso grossartig. Ich weiss, wozu ich aktuell fähig bin und wenn ich mein Level erreiche, weiss ich, dass ich in die Top 3 gehöre.
Und ab und zu mal anecken macht mir als Dreieck spezielle Freude.