Es gibt im Frauentennis viele Beispiele von Spielerinnen, die praktisch aus dem Nichts an die Weltspitze vorstossen – um ebenso schnell wieder von der Bildfläche zu verschwinden. Nicht so Simona Waltert. Erst im siebten Anlauf qualifizierte sich die 22-Jährige fürs Hauptfeld eines Grand-Slam-Turniers. Nach ihrem Sieg gegen die Amerikanerin Elizabeth Mandlik steht sie einzige Schweizerin in der zweiten Runde der French Open.
Als sie nach 23.00 Uhr über ihren Premieren-Sieg spricht, tut sie das, wie sie spielt: rasant. Wie aus der Pistole geschossen kommen ihre Antworten. Nur bei der Frage, wie sie ihre Freizeit verbringt, kommt sie ins Grübeln, bis sie etwas verlegen sagt: «Schlafen, raus aus dem Hotel, spazieren. Die Tage gehen schnell rum.» Simona Waltert hat nur eines im Kopf: Tennis.
Eine Webseite hat sie nicht, auf Instagram ist sie nicht sonderlich aktiv und mit TikTok kann sie nach eigenen Angaben gar nichts anfangen. Untypisch für eine 22-Jährige. Waltert sagt: «Ich will keine Influencerin sein. Es kann zwar Spass machen, darf aber nicht nicht zu viel Zeit in Anspruch nehmen. Ich möchte mich auf den Sport konzentrieren.» Danach gefragt, wie sie sich in drei Wörtern beschreiben würde, sagt sie: «Fröhlich, professionell, diszipliniert.»
Eine Einschätzung, die auch Heinz Günthardt teilt, der Waltert im letzten Herbst für das Schweizer Team um Olympiasiegerin Belinda Bencic und Jil Teichmann nominierte, das in Glasgow den Billie Jean King Cup gewann. Waltert habe sich in der Vergangenheit oft etwas kleiner gemacht, als sie war und sich unter Wert verkauft. «Ihre Schläge waren schon immer gut. Jetzt setzt sie diese geschickter ein und baut so ihr Selbstvertrauen auf.»
Waltert galt schon immer als beharrlich und kompromisslos. Mit 15 zog sie mit ihrer Mutter Claudia nach Biel, um im nationalen Leistungszentrum von Swiss Tennis zu trainieren. 2017, im Alter von 16 Jahren, erreichte sie im Junioren-Turnier von Wimbledon den Halbfinal. Letzten Herbst verlegte sie ihren Trainingsstützpunkt an die französische Mittelmeerküste nach Cannes, wo sie im Elite Tennis Center trainiert und ein Studio bewohnt.
Betrieben wird die Akademie vom früheren monegassischen Profispieler Jean-René Lisnard. Trainiert wird Simona Waltert allerdings von Stéphane Bohli, der auch mit ihr nach Paris gereist ist. Vom Genfer hatte sich Waltert im Herbst zwar getrennt («wir brauchten eine Pause»), doch in Cannes, wo sie einen Neustart wagen wollte, habe man sich wieder gefunden.
Bohli wurde sieben Mal für das Davis-Cup-Team nominiert und spielte dort unter anderem an der Seite von Roger Federer und Stan Wawrinka.
Dass Waltert sich in der Weltrangliste trotz guter Anlagen nicht schneller nach oben arbeiten konnte, liegt auch an der Coronapandemie, während der erst gar keine Turniere auf unterer Stufe mehr stattfanden und danach die Weltrangliste eingefroren war. Als das Virus ab Mitte März das Leben in weiten Teilen der Welt lahm legte, spielte Waltert ein Turnier in Südafrika, als sie das Land Hals über Kopf in Richtung Chur verliess.
Dort machte sie aus der Not eine Tugend, legte den Fokus auf ihre Fitness. Sie sagt: «Es war für alle eine schwierige Zeit. Ich persönlich konnte diese gut für den physischen Aufbau nutzen. Als Tennisspielerin hat man dafür sonst nie so viel Zeit.» Dafür habe sie etwas mehr Geduld gebraucht, um sich in der Weltrangliste nach vorne spielen zu können.
Die Früchte ihrer Arbeit erntet Simona Waltert dieser Tage, und nicht nur in Paris. Im letzten Sommer besiegte sie in Lausanne mit Danielle Collins eine Top-Ten-Spielerin und erreichte den Viertelfinal. Vor einem Jahr wurde Waltert im 237. Rang der Weltrangliste geführt, nun stösst sie mit ihrem Coup in Paris virtuell erstmals in den Kreis der Top 100 vor.
Dort will sie sich etablieren, ob sie langfristig in Cannes bleibt, weiss sie indes nicht. Aufgewachsen ist Simona Waltert in Chur, wo Vater Markus eine Arztpraxis führt und Mutter Claudia in der Kinderbetreuung arbeitet. «Für mich wird Graubünden immer mein Zuhause sein. Wenn ich in die Berge fahre, ist die Welt in Ordnung. Das ist ein Teil von mir und wird auch immer so bleiben.»
Wie die Eltern fieberten Bruder Lukas und Schwester Livia aus der Ferne mit. «Sie studieren und meine Eltern müssen arbeiten, sie können nicht einfach nach Paris kommen», sagt Waltert lakonisch.
85'000 Franken bringt ihr der Vorstoss in die zweite Runde der French Open ein, damit verdoppelt Waltert auf einen Schlag ihr Preisgeld in dieser Saison. Ob sie sich damit etwas gönnt? «Nein, aber ich brauche dringend ein neues Handy. Mein altes hat vor zwei Wochen den Geist aufgegeben.» Auch deshalb habe sie noch nicht alle Gratulations-SMS beantwortet.
Gut möglich, dass am Mittwoch noch einige Nachrichten dazukommen. In der zweiten Runde trifft Waltert auf die Italienerin Elisabetta Cocciaretto (22, WTA 44). Keine Gegnerin, die eine unüberwindbare Hürde darstellt. (aargauerzeitung.ch)