Seit 15 Monaten tobt in ihrer Heimat der grösste Krieg in Europa seit Ende des zweiten Weltkriegs. In der Nacht auf Sonntag griff Russland Kiew, die Hauptstadt der Ukraine, mit 54 Drohnen an.
Auch ohne diese Eskalation hätte das Duell zwischen der Ukrainerin Marta Kostyuk und der Belarussin Arina Sabalenka in der ersten Runde der French Open für Spannungen gesorgt. Denn es ist bekannt, dass Spielerinnen aus der Ukraine Gegnern aus Russland und Belarus nach dem Spiel nicht die Hand geben.
Aber was nach dem 6:3 6:2 Sabalenkas gegen Kostyuk passierte, damit hatte niemand gerechnet. Das Pariser Publikum pfiff die Ukrainerin aus.
Aryna Sabalenka taking a bow.
— The Tennis Letter (@TheTennisLetter) May 28, 2023
Marta Kostyuk is being booed after the match for not shaking hands.
There’s a lot happening at Roland Garros right now. pic.twitter.com/TWHdQhB4Ue
Sabalenka verbeugte sich, dachte zunächst, die Pfiffe würden ihr gelten. Danach sagte die Belarussin: «Ich war überrascht, aber dann spürte ich die Unterstützung und ich bereute meine erste Reaktion. Ich kann verstehen, dass sie uns nicht die Hand schüttelt, und nehme das nicht persönlich. Marta hat es nicht verdient, den Platz auf diese Weise zu verlassen.»
Auch Kostyuk überraschten die Pfiffe, wie sie nach der Partie sagte, und dann: «Ich will sehen, wie die Leute in zehn Jahren darüber denken, wenn der Krieg vorbei ist. Ich denke, sie werden sich nicht sehr gut fühlen.»
Danach auf den russischen Angriffskrieg in der Ukraine angesprochen, bei dem Belarus den Steigbügelhalter für Wladimir Putin macht, sagte die 25-jährige Australian-Open-Siegerin Sabalenka: «Hören Sie, ich habe das schon oft gesagt. Niemand auf dieser Welt, kein russischer und keine belarussische Athletin unterstützt den Krieg. Niemand. Wie können wir den Krieg unterstützen? Kein normaler Mensch wird das je unterstützen.»
Ein Argument, das Marta Kostyuk nicht gelten lassen will und für das sie keinerlei Verständnis aufbringt. Sie sagt: «Der Krieg ist da, seit 15 Monaten. Die Frage sollte nicht lauten, wie sie darüber denkt, sondern wer den Krieg gewinnen soll. Ich bin nicht so sicher, ob viele von ihnen sagen, dass die Ukraine gewinnen soll. Ich will, dass die Ukraine diesen Krieg gewinnt.» Sabalenka habe bis heute nie gesagt, dass sie diesen persönlich ablehne. Allerdings erklärt die Belarussin immer wieder: «Wenn ich könnte, würde ich den Krieg beenden. Aber leider liegt es nicht in unseren Händen.»
Seit Beginn des Krieges setzt sich Kostyuk vehement und lautstark für Sanktionen gegen Russinnen und Belarussen ein. Vor dem Turnier sagte sie zur französischen Sportzeitung «L'Equipe»: «Ich lebe nicht mehr auf dieser Welt. Wenn Sie mich fragen, was mein Ziel ist in diesem Jahr, antworte ich: dass meine Familie den Krieg überlebt.» Es reiche ihr, einen Anruf von ihrem Vater zu erhalten, der sagt, dass es allen gut gehe.
Für Sabalenka hat Kostyuk wenig übrig. Sie sagt: «Nach diesem Turnier könnte sie in einer der bedeutendsten Sportarten der Welt die Nummer 1 sein. Sie reist um die Welt und erreicht Milliarden Menschen.» Dass sie diese Plattform nicht nutze, zeige: «Sie nimmt ihre Verantwortung nicht wahr.» Hasst sie Sabalenka dafür? «Nein, Hass und Liebe sind Emotionen. Das kann ich nicht beeinflussen. Aber ich respektiere sie nicht. Das würde mich persönlich mehr schmerzen. Denn Respekt ist keine Emotion.»
Kostyuk fordert einen Ausschluss von Belarussen und Russinnen wie 2022 in Wimbledon. Das Rasenturnier hat diesen Ausschluss unter Druck der Profiorganisationen ATP und WTA wieder aufgehoben. Im Vorjahr hatten sie keine Weltranglistenpunkte vergeben. Kostyuk hofft, dass Russinnen und Belarussen keine Visa für die Einreise nach Grossbritannien erhalten.
Vor Wimbledon 2022 hatte sie dieser Zeitung erzählt, wie sie den Krieg in ihrer Heimat erlebt und wie er sie verändert. Ihre Heimat stehe unter einer brutalen Attacke durch eine nukleare Supermacht. «Die Bomben legen unsere Häuser in Schutt und Asche, die russischen Soldaten töten Zivilisten und zerstören unsere Leben. Millionen Kinder wissen nun, wie Angst und Tod aussehen und was Explosionen sind», sagte Kostyuk im Juli 2022.
Auch für das Argument, Sport und Politik seien zu trennen, zeigte Kostyuk kein Verständnis. «Wir alle wissen, wie wichtig für Russland der Sport ist, um Macht und Stärke zu demonstrieren. Sport ist Politik, das war schon immer so und wird immer so bleiben. Ganz ehrlich: Wer etwas anderes behauptet, ist einfach nur dumm und sucht nach Ausreden.»
Schon damals äusserte sie die Befürchtung, der Krieg gerate langsam in Vergessenheit. «Ich glaube, es ist normal, dass wir uns an Dinge gewöhnen – egal, wie gut oder wie schlecht sie sind. Das ist einerseits verständlich, andererseits führt es zu immer schlimmeren Dingen. Menschen gewöhnen sich an Krieg.» Deshalb versuche sie weiterhin, so laut wie möglich zu sein und darauf aufmerksam zu machen, was in der Ukraine geschehe.
«Ich persönlich lebe nach dem Motto: Wenn du durch die Hölle gehst, geh weiter. Weshalb solltest du in der Hölle bleiben?», sagte Marta Kostyuk im Sommer 2022 zu dieser Zeitung. Und geht immer weiter. Durch die Hölle.
Da hat sie allerdings (leider) recht.
Die Aussage von Sabalenka, dass kein belarusischer oder russischer Athlet den Krieg gutheissen würde, ist beschönigend, falsch, und beweist, dass Kostyuk recht hat.
Dass die internationalen Sportverbände sich sträuben, die Sportler aus russland und belarus zu sperren, zeigt einmal mehr, wie skrupellos die Leute dort sind.
Von olympischen Gedanken, Fairness und Anstand könnten diese korrupten Säcke nicht weiter entfernt sein.