«Ich hatte Schüttelfrost und Gänsehaut. Ich konnte mich nicht mehr richtig bewegen und habe nicht mehr dran geglaubt, noch zu gewinnen.» Am liebsten wäre Martina Hingis zum dritten Satz gar nicht mehr angetreten.
Bis zu 50 Grad werden auf dem Court in der Rod Laver Arena beim Australian-Open-Final 2002 gemessen. Zwei Stunden und zehn Minuten mühen sich Hingis und ihre Gegnerin Jennifer Capriati ab. Dann steht die Amerikanerin mit 4:6, 7:6 (9:7), 6:2 als Siegerin fest – und das in einem Spiel, das sie eigentlich längst verloren hatte.
Hingis legt nämlich los wie die Feuerwehr. 2001 unterlag sie Capriati im Endspiel an gleicher Stelle schon, nachdem die «Swiss Miss» zuvor im Viertel- (Serena) und Halbfinal (Venus) erstmals an einem Turnier beide Williams-Schwestern bezwang.
Das soll nicht mehr passieren. 5:1 führt die Schweizerin schnell, den Satz gewinnt sie am Ende mit 6:4. Auch im zweiten Durchgang sieht es lange spielerisch leicht aus, was Hingis auf dem Platz zeigt. Capriati legt sich mit dem Schiedsrichter an und schreit ins Publikum: «Shut the hell up!» Ihre Nerven liegen blank.
Hingis dagegen führt bald 4:0 und man hat das Gefühl, dass sie mit ihrer Gegnerin machen kann, was sie will. Sie zelebriert die Ballwechsel, antizipiert hervorragend, zeigt herrliche Variationen, ist einfach besser. Endlich, nach drei Jahren Durststrecke, will die Ostschweizerin ihren sechsten Grand-Slam-Titel gewinnen. In den letzten sechs Jahren stand sie hier im Endspiel. Die ersten drei hatte sie für sich entschieden, die nächsten beiden verloren und jetzt fehlt nur noch ein Schritt für die erneute Thronbesteigung.
Doch Capriati kämpft sich zurück. Beim Stand von 5:4 vergibt Hingis ihren ersten Matchball, bei 6:5 den zweiten. Das Tiebreak muss entscheiden. Auch hier fehlt der Schweizerin zweimal nur ein Punkt zum Sieg – doch sie vergibt auch die Matchbälle 3 und 4. Kritiker sagen, der Mut hätte sie in den entscheidenden Situationen verlassen, sie habe zu defensiv gespielt. Als Capriati ihren Satzball zum 9:7 nutzt, schleudert Hingis entnervt das Racket weg.
Ein dritter Satz muss her. Doch erst erhalten die beiden Kontrahentinnen eine Hitzepause von 15 Minuten. Nie zuvor hatte eine Spielerin in einem Grand-Slam-Final vier Matchbälle abgewehrt und danach gar noch gewonnen. Obwohl Hingis ein schnelles Break im Entscheidungssatz gelingt, ist schnell klar: Die 21-Jährige ist am Ende ihrer Kräfte. Das Break ist schnell weg und den Punkt zum Servicedurchbruch zum 4:2 schenkt die Schweizerin ihrer Gegnerin mit zwei Fussfehlern – und damit dem Doppelfehler – in Serie.
Der Widerstand ist gebrochen, Capriati nutzt ihren ersten Matchball zum 6:2 nach 2:10 Stunden. «Ich weiss nicht, wie ich das gewonnen habe. Das waren die schwersten Bedingungen, unter denen ich je gespielt habe», sagt die Titelverteidigerin danach. Weder Hingis noch Capriati werden nach diesem denkwürdigen Spiel je wieder einen Grand-Slam-Final im Einzel erreichen.
Martina Hingis gibt Anfangs 2003 ihren Rücktritt bekannt, kommt aber 2006 nochmals für zwei Jahre als Einzelspielerin zurück. Sie schafft es 2006 immerhin in die Viertelfinals am Australian sowie am French Open, 2007 nochmals in Melbourne.
2013 gibt sie ihr zweites Comeback, tritt fortan allerdings nur noch auf der Doppel-Tour an. Dies allerdings äusserst erfolgreich: Sie gewinnt Olympia-Silber in Rio, vier weitere Grand-Slam-Titel im Doppel und gar deren sechs im Mixed. Ende 2017 gibt sie als Nummer 1 der Doppel-Weltrangliste ihren endgültigen Rücktritt. Ein Abgang auf dem Höhepunkt, die bittere Pleite im Backofen von Melbourne ist da längst vergessen.