Es ist ein Gespräch in einem hippen Café, in der Nähe der Langstrasse in Zürich. Als Gino Mäder den Raum betritt, wirkt der Lockenkopf mit der Brille etwas unscheinbar. In seiner Wahlheimat Zürich drehen sich die Menschen nicht um, als einer der besten Schweizer Velofahrer das Lokal betritt. Mäder trägt Velokleider, ist mit dem Rad zu diesem Interviewtermin am Tag nach der Flèche Wallonne gekommen. Für ihn ist es das schnellste Transportmittel, wenn er in der Stadt von Termin zu Termin eilt.
Gino Mäder begrüsst uns herzlich. Für mich ist es ein spezieller Arbeitstermin, zum ersten Mal überhaupt habe ich in meiner Laufbahn als Journalist meinen Hund zu einem Interview mitgenommen. Mäder hat mich mit seiner unkomplizierten Art dazu inspiriert, als er im Jahr zuvor an einen Medienanlass des Radverbands von seinem Hund Pello begleitet worden war.
Durch den anwesenden Hund ist das Gesprächsthema schnell gefunden. Gino streichelt meinen Hund und erzählt von seinem Hund Pello, der in den Strassen Bilbaos gefunden worden war. Mäder hat ihn nach seinem Teamkollegen Pello Bilbao benannt. Er erzählt davon, wie sich seine Freundin rührend um den Hund kümmere. Und manchmal fahre das Trio gemeinsam Velo. Wenn Pello Mäders Freundin den Hang hochzieht, hat auch Bergspezialist Mäder keine Chance.
Als ich später den Aufnahmeknopf meines Smartphones drücke, hängen wir - zwei Journalisten und ein Fotograf - an den Lippen Mäders. Seine Worte sind wohl gewählt und durchdacht. Mal ist er philosophisch, mal witzig, mal nachdenklich. Wir diskutieren über den Radsport, das Thema Doping, aber auch über die Zukunft unseres Planeten, über Klimaprobleme.
Mäder wählt seine Worte zu jedem Thema überlegt. Später beim Gegenlesen wird er kein einziges Komma anpassen. Dabei sind seine Aussagen auch mal heftiger, und er hält auch mit Selbstkritik nicht hinter dem Berg. «Ich fand heraus, dass ich blöd war», sagt er etwa dazu, dass er sich lange mit dem zweifachen Tour-de-France-Sieger Tadej Pogacar verglichen habe.
Das Gespräch dauert länger als vereinbart, doch Mäder nimmt sich voller Lockerheit auch noch die Zeit für ein kleines Fotoshooting in einem nahe gelegenen Pärkchen. Zum Abschluss bedankt er sich herzlich für das gute Gespräch, steigt auf sein Velo und fährt winkend davon. Für mich soll es das letzte längere Gespräch mit dem aussergewöhnlichen Athleten gewesen sein.
Gino Mäder hat viel zu früh, mit 26 Jahren, sein Leben verloren. An der Tour de Suisse ist er tödlich verunglückt. Damit verliert die Schweiz nicht nur einen der besten Velofahrer des Landes. Gino war viel mehr als das. Das durfte ich in den letzten Jahren, in denen ich ihn als Journalist begleitet habe, feststellen. Oft sind es nur sporadische Begegnungen, die Athlet und Journalist zusammen haben, es sind berufliche Termine.
Die Beziehung kann durchaus auch mal von einem Gefälle geprägt sein, der Athlet ein wenig arrogant auftreten. Bei Gino Mäder war es anders, die Gespräche immer auf Augenhöhe, die längeren Begegnungen imponierend und inspirierend. Man hatte immer das Gefühl, dass Gino mit seiner einnehmenden Art stets authentisch wirkte. Am SRF-Mikrofon wirkte er genau gleich wie in der Interaktion mit meinem Hund. Gino Mäder verstellte sich nicht, sondern schien einfach sich selber zu sein.
In unseren Begegnungen ging er auf das Gegenüber ein, die Unterhaltungen glichen keinem Fragen-Pingpong, stattdessen interessierte er sich für die Meinungen und Ansichten der anderen, stellte auch mal selber Nachfragen und nahm sich immer Zeit für einen persönlicheren Schwatz.
Wenn er in seinem Kauderwelsch von Dialekt sprach - geboren war er in Flawil, aufgewachsen im Oberaargau und wohnhaft zuletzt in Zürich -, war er stets überlegt, seine Antworten hatten Hand und Fuss. Gino sagte nichts nur schnell daher, oft dauerte es etwas länger, bis er sich äusserte, dafür waren seine Aussagen tiefgründig und smart. Sprach er über die Probleme dieser Welt, wirkte er oft erfahrener und weiser, als es für sein Alter üblich gewesen wäre.
Vor der Vuelta 2021, an der er später Gesamtfünfter werden sollte, erzählte mir Gino Mäder am Telefon, dass er sich einen E-Reader kaufen möchte. «Wir haben im Team darüber diskutiert, wann sich ein E-Reader ökologisch lohnt im Vergleich zu normalen Büchern. Wir haben festgestellt, dass dies schon relativ rasch der Fall ist.» Am Flughafen hatte er zuvor noch das Buch «Wie wir die Klimakatastrophe verhindern» von Bill Gates auf Papier gelesen.
Der Widerspruch, sich am Flughafen mit der Klimakrise zu beschäftigen, illustriert das Dilemma in Mäders Leben perfekt. Er hat sich für eine ökologischere Welt eingesetzt, obwohl er als Veloprofi nach seiner Aussage einen so grossen ökologischen Fussabdruck hinterlassen habe wie drei gewöhnliche Menschen.
Mäder zeigte sich auch seiner eigenen Lebensweise gegenüber kritisch, war aber überzeugt, dass er seine Rolle als prominente Person für Gutes nutzen soll. So sagte er im Interview im April: «Mir ist es ein grosses Anliegen, dass wir im Einklang mit der Natur leben und diese nicht einfach als gegeben ansehen. Man kann mir Scheinheiligkeit vorwerfen. Aber wenn ich als Veloprofi Leute dazu bringen kann, sich Gedanken zur Lebensweise im Bezug auf die Klimakrise zu machen, bedeutet mir das etwas.»
Ein weiteres Dilemma hatte Gino Mäder mit seinem Team Bahrain Victorious. Die Mannschaft wird vom Königreich aus dem Nahen Osten finanziert. Dem Regime werden schwere Menschenrechtsverletzungen vorgeworfen. Zwar wies Mäder in Gesprächen über sein Team gerne darauf hin, dass das Ziel des Veloteams darin bestünde, die Bevölkerung Bahrains zum Sportmachen zu animieren.
Und doch gab er auch ehrlich zu, dass er das Angebot Bahrains hatte annehmen müssen, da er kein anderes eines Profiteams hatte. Ganz wohl war es dem Weltverbesserer Mäder nie, deshalb galt es als wahrscheinlich, dass er bald gewechselt hätte. Das Schweizer Team Tudor hat sich erst in dieser Woche öffentlich dazu bekannt, dass es Gino Mäder gerne als Teamleader verpflichten würde.
Einen seiner grössten Siege feierte Gino Mäder ausgerechnet an der Tour de Suisse, zwei Jahre vor seinem tragischen Tod. Damals gewann Mäder einen Rundkurs mit Start und Ziel in Andermatt. Beim Aufstieg auf der Tremola hängte der damals 24-Jährige die Konkurrenz eindrücklich ab. Es ist eine Strecke, die Mäder schon mit 10 zum ersten Mal mit seinem Vater hochgefahren ist. Ginos Eltern waren beide einst lizenzierte Radfahrer und haben sich in Tenero kennengelernt. Als sie sich trennten, war Gino Mäder 16 Jahre alt. An jenem Abend setzte er sich zum Ziel, Veloprofi zu werden. «Ich wollte, dass meine Eltern zusammen am Streckenrand stehen», erzählte er mir später.
Gino Mäder war ein ehrgeiziger Athlet, nie zufrieden mit sich selber, immer selbstkritisch. Vielleicht brauchte er im Gegensatz zu anderen auch darum Jahre, um bei den Profis durchzustarten. Als er dann Erfolge feierte, war für viele Experten klar, dass er ein ganz Grosser werden könnte. Viele haben ihm sogar den Triumph bei der Tour de France zugetraut. Er galt als ausgezeichneter Rundfahrer und als starker Bergfahrer, ging es länger bergauf, zählte er zu den allerbesten der Welt. Wenn er in einem Rennen triumphierte, dann zelebrierte er seinen Sieg damit, dass er seine Zunge rausstreckte.
Die letzte direkte Begegnung mit Gino Mäder ist eine kurze. Am Dienstag vor dem Start in Tafers nimmt er sich Zeit für ein Gespräch. Mit Maske steht er in der Interviewzone, er ist vorsichtig geworden wegen Corona. Vor einem Jahr hat er die Tour de Suisse wegen eines positiven Tests abbrechen, vor ein paar Wochen den Giro aus demselben Grund sausen lassen müssen.
Doch auch in solchen Situationen blieb Mäder positiv. Am Telefon meinte er einige Tage nach dem positiven Test: «Wenn ich dafür an die Tour de France kann, ist alles gut.» Tatsächlich stand Mäder auf der Longlist für die Tour, durfte sich berechtigte Hoffnungen auf eine Nomination machen. Noch am Dienstag kam er in Tafers ins Schwärmen, als er an die grösste Rundfahrt der Welt dachte. «Die Tour de France ist das Grösste, was es gibt. Ich hoffe, dass ich teilnehmen darf», sagte er zu mir.
Dass Gino sich diesen Wunsch nicht erfüllen konnte, hinterlässt bei mir einen weiteren bitteren Nachgeschmack. Gino Mäder ist leider mit 26 Jahren viel zu früh von dieser Erde gegangen. Die Gedanken gehören jetzt seiner Freundin, seiner Familie, seinen Freunden, seinem Hund und allen, die ihn kannten. Sie haben einen wundervollen und herzlichen Menschen verloren. Einen, der die Welt verbessern wollte - und sie zu einem besseren Ort gemacht hat. Ruhe in Frieden, Gino.
Ruhe in Frieden und viel kraft den hinterbliebenen, mögen uns seine Werte, sein Anstand und seine Überlegtheit noch lange begleiten. Menschen wie ihm soll grössere Aufmerksamkeit gewidmet werden.