Der Zufall ist ein grausamer Gott. Wir verdanken ihm die Faszination des Sportes. Der Zufall macht es unmöglich, den Erfolg exakt zu berechnen und zu planen. In der Zufälligkeit liegt auch das Unvermögen, in Zeiten einer Technik, die Bilder von fernen Planeten übermittelt, Fehler von Schiedsrichtern zu vermeiden. Der Zufall mag auch im richtigen Leben eine Rolle spielen. Seine ganze Dramatik wird erst im Sport sichtbar. Deshalb ist der Zufall so etwas wie die Seele des Sportes.
Aber der Zufall ist ein grausamer Gott. Er entscheidet nicht nur, ob der Ball von der Latte ins Feld zurückprallt oder ins Netz fährt. Oder wer nach einer Entscheidung mit der Differenz eines Tausendstels einer Sekunde ein Sieger oder ein Verlierer wird. Er entscheidet nicht nur über Karrieren, Ruhm und Reichtum. Er entscheidet auch über Leben und Tod. Wie bei Gino Mäder.
Bei einem Unglück suchen wir nach Schuldigen. Nach der Ursache. Aber gibt es DIE Ursache, DEN Schuldigen bei dieser unfassbaren Tragödie? Nein. Der entscheidende Faktor ist der Zufall. In der Zeit eines Wimpernschlages entscheidet der Zufall über Leben und Tod.
Gino Mäders tödlicher Unfall erinnert in so fataler Weise an Jason Dupasquier. Er ist am 30. Mai 2021 auf der Rennstrecke von Mugello nach einem Sturz überfahren worden. Auch er ist dem Zufall zum Opfer gefallen. Zufällig stürzt er am falschen Ort zum falschen Zeitpunkt. Was hundertmal glimpflich ausgeht, kostet ihn das Leben. Er war 20 Jahre alt. Ausersehen, einer wie Tom Lüthi zu werden. So wie Gino Mäder der nächste grosse Name in unserem Radrennsport hätte werden können.
Motorrad- und Radrennsport mögen zwei völlig verschiedene Sportarten sein. Und doch haben sie etwas gemeinsam: ein enormes Risiko. Ein Sturz mit dem Rennvelo kann so fatal enden wie ein Sturz mit dem Töff. Der eigene Körper ist die Knautschzone. Zufälligkeiten können tödlich sein.
Da bleibt die Frage: Warum wählt ein kluger junger Mann einen Beruf, bei dem er sich diesem Risiko aussetzt? Er könnte doch eine Karriere als Banker oder Ingenieur machen. Warum übt er einen Sport aus, bei dem er – anders als im Tennis, Fussball oder in der Leichtathletik – im Training und Wettkampf sein Leben und seine Gesundheit riskiert?
Das sind Fragen, mit denen wir uns nach dem tödlichen Unfall von Gino Mäder durchaus beschäftigen können. Er ist ein neuer Name auf einer langen Liste von Männern und Frauen, die in Risikosportarten auf eisigem Schnee, auf Asphaltpisten oder auf der Landstrasse ihr Leben verloren haben. Auch wenn es oft vergessen oder verdrängt wird: Der Radrennsport ist ein Risikosport.
Früher faszinierten die Menschen tapfere Krieger und mutige Forscher, die Gefahren trotzten. Feinde zur Strecke brachten, Drachen erschlugen oder Meere auf der Suche nach neuen Welten durchsegelten. Zahllos sind die Heldensagen. Oft geht vergessen, dass wir auch im 21. Jahrhundert ohne Geschichten über Heldengestalten nicht leben wollen. Und die Menschen immer noch nach Heldentum streben.
Und da heute die Drachen erschlagen, die Welt vermessen und der Mond betreten ist, liefert uns vor allem der Sport verlässlich diese Sagenfiguren und bietet die Chance, ein Held zu werden. Dabei geht es nicht nur um die Aussicht auf Ruhm und Geld: Wer ein Held wird, hat auch die Chance, die Welt zu verändern.
Die wahren Helden der Moderne sind jene, die sich vor den Augen der TV-Kameras in Gefahr begeben. Die Höllenmaschinen auf Rennstrecken fahren. Die auf Brettern todesmutig ins Tal hinabrasen. Oder die Titanen der Landstrasse, die auf Fahrrädern mit schier übermenschlicher Anstrengung die höchsten Pässe erklimmen und sich dann in halsbrecherischen Abfahrten ins Tal herabstürzen.
Aber zu Ruhm und Reichtum kommen nur jene, die bereits an der Schwelle zu einer grossen Karriere das Wagnis eingehen, sich dem Gott des Zufalles auszuliefern. Dieser Gott kann Berühmtheit und Geld geben. Aber im Nu alles wieder wegnehmen. Innert einer Sekunde. Wie bei Gino Mäder. Wie bei Jason Dupasquier.