Jede Heilungsmeldung einer Long-Covid-Patientin macht unter Betroffenen sofort die Runde – umso mehr, wenn es eine bekannte Persönlichkeit ist: Ende Oktober verkündete die Schweizer Radsportlerin Marlen Reusser nicht nur ihren Wechsel ins spanische Team Movistar, sondern auch, dass es ihr besser gehe.
Reusser war im Februar an Covid-19 erkrankt. Ende März fuhr sie zwar noch an der Flandern-Rundfahrt und brach sich dort den Kiefer und die Gehörgänge, zudem waren acht Zähne beschädigt. Im Mai gab sie auf. Sie kämpfte mit der postviralen Fatigue: Wenn sie sich anstrengte, verschlechterten sich ihre Symptome, das Fieber kehrte zurück, sie war erschöpft und fast nur noch zu Hause.
Dass es nicht mehr ging, hatte sie sich lange nicht eingestanden, wie sie im September gegenüber SRF in einem emotionalen Gespräch, den Tränen nahe, sagte: «Ich dachte: Ich bin Marlen, ich bekomme das hin. Aber jedes Mal, wenn du etwas machst, zahlst du danach dafür.» Sie habe beschlossen, sie sei gesund, aber das habe nicht funktioniert. Sie wusste: Manche genesen nicht von Long Covid. Ihre Radkarriere stand auf dem Spiel.
Nun ist Marlen Reusser zurück. Am Montag kündigte sie in einem Medien-Gespräch an, sie habe alle grossen Radsportziele 2025 im Visier: die Vuelta a España, die Tour de France, den Giro d’Italia und die WM in Ruanda. Es gehe ihr tipptopp, sie trainiere auf voller Belastung. Dem Glück traute sie lange nicht recht. Unfälle könne man einordnen, und man könne abschätzen, wie es weitergehe, aber bei dieser Krankheit sei das anders: «Man weiss nicht, ob es wirklich gut kommt. Aber jetzt bin ich zurück in meinem alten Leben.»
Im November postete Reusser ein Video auf Instagram, in dem sie umschrieb, was ihr während der Krankheit geholfen habe: ein positiver Fokus, Meditation, Hypnose und Yoga. Auch auf einen gewissen Dr. Will Bostock, der in Grossbritannien in einer Long-Covid-Klinik arbeitet, verwies sie. Dieser vergleicht in einem Interview auf Youtube die Krankheit mit einem Auto, in dem das Öllämpchen blinkt, obwohl der Öltank voll ist. Der Körper könne ebenfalls viele Symptome produzieren, wenn er gar nicht sollte. Die Hardware sei in Ordnung, der Fehler sei daher auf einem anderen Level im System zu suchen. Es gelte, das System neu aufzusetzen, und jede Person trage die Genesung in seinem Kopf.
Nach dem Post schrieben Marlene Reusser über tausend Personen, die wissen wollten, wie man auf diese Art genesen könne. Dieses Geheimnis hat sie am Montag ein Stück weit gelüftet. Als sie ziemlich verzweifelt im Bett lag, suchte sie im Internet nach Hypnose bei Long Covid. Das hatte ihr jemand empfohlen.
Das Internet ist voll von Hypnosetherapeuten, die auch bei Long Covid ihre Behandlungen anbieten. Wie gut das den Betroffenen hilft? Unbekannt. Eine neue Studie, die im Fachmagazin «BMJ» erschien und viele Therapien auf ihren Erfolg hin untersuchte, zeigte lediglich, dass es sich lohnt, die mentale Gesundheit zu verbessern, da das «möglicherweise» die Long-Covid-Symptome verbessert.
Auch im Dossier für Ärztinnen und Ärzte für Patienten mit Post-Covid in der Schweiz wird Hypnose als eine Möglichkeit genannt, die Symptome zu lindern: «Ein mental-körperlicher Ansatz ist bei der Behandlung von Erschöpfung mit Entspannung, Achtsamkeitsübungen, Meditationstechniken, Yoga und Hypnose von Vorteil», heisst es da.
Marlen Reusser sagt, sie habe nach jeder Hypnose-Einheit eine Verbesserung gespürt. Sie besuchte keinen Therapeuten, sondern nutzte eine Audiodatei, die sie immer und immer wieder hörte. Eigentlich sei sie als ausgebildete Ärztin der Hypnose gegenüber zuerst sehr verschlossen gewesen. «Ich war ja physisch krank, wie sollte ich da etwas über den Kopf im Körper bewirken können?, fragte ich mich.» Dass es funktionierte, habe ihr Weltbild der Schulmedizin aufgerüttelt. Sie sehe nun Körper und Geist weniger scharf getrennt.
Dabei betont sie, dass das vermutlich kein Rezept für alle sei, und sie schloss auch nicht aus, dass es sich schlicht um eine Spontanheilung handelte, wie sie im ersten halben Jahr bei Long-Covid-Patienten häufig ist.
Das bestätigt Chantal Britt, die Präsidentin von Long Covid Schweiz, die unzählige Genesungen und Versuche kennt. Weil es besonders im ersten halben Jahr Spontanheilungen gibt, würde sie erst danach von Long Covid sprechen. «Zeit und Ruhe heilen vieles. Und oft hatte man schlicht Glück. Es hilft zudem ungemein, wenn man sich den Luxus leisten kann, Ferien zu machen, positiv zu denken, keine Geldsorgen und Zugang zu Ärzten und akuten Therapien zu haben.» Bei vielen sei dies nicht der Fall. Dass soziale und finanzielle Absicherung beziehungsweise wenig Stress eine Rolle für den weiteren Verlauf spiele, bestätigen Long-Covid-Ärzte.
Dessen ist sich Reusser bewusst; sie sagt: «Ich hatte alle Ressourcen, die man sich vorstellen kann. Das haben längst nicht alle.» Wenn sie Kinder zu Hause gehabt hätte oder in prekären Verhältnissen leben würde, wäre das anders gewesen. So habe sie sich voll auf die Heilung konzentrieren können.
Auch Chantal Britt sagt, dass positive Gedanken helfen. «Entspannungsübungen wie autogenes Training, Achtsamkeit oder Yoga sind Strategien, die wir empfehlen», so Britt. Hypnose sei für einige hilfreich, das Unispital in Genf habe damit gute Erfahrungen gemacht.
Doch: Dadurch eine Heilung zu erwarten oder zu versprechen, wäre nicht seriös, sagt Britt. «Diese Strategien verbessern das Wohlbefinden und die Resilienz, aber die Schlüsselsymptome, Belastungsintoleranz und Fatigue, bleiben meist unverändert.» Nach 12 Monaten seien positive Berichte über Spontanheilungen selten. «Berichte über Heilungen durch positive Gedanken oder Verhaltenstherapie bei Personen nach einem Jahr mit anhaltenden Symptomen stehen wir ebenso kritisch gegenüber wie Berichten über Heilungen durch körperliches Training.»
Reusser hatte genau das gewagt: Sie gab entgegen der Empfehlungen das Pacing auf, die Standardtherapie bei Long Covid, bei der man lernt, seine Energie sparsam einzuteilen. Britt entgegnet dem: «Für die meisten ist Pacing eine Überlebensstrategie und nicht eine Therapieoption.» Belastung führe in der Regel zu Symptomverschlechterung.
Sie sieht ein weiteres Risiko bei Heilungsberichten, die auf positiven Gedanken, Hypnose, Brain-Retraining und Aktivierung basieren. Damit werde suggeriert, dass Betroffene selbst schuld seien, dass sie nicht gesund würden oder nicht gesund werden wollten.
So hat es Reusser nicht gemeint. Sie behauptet auch nicht, dass die Hypnose erwiesenermassen der Grund für ihre Heilung gewesen sei oder dass das bei allen funktioniert. Dazu müsse man Studien durchführen. Sie erwähnt auch die Schweizer Leichtathletin Selina Büchel, die wegen Long Covid ihre Karriere 2022 abbrechen musste. Reusser betont, sie habe ihren Fall auf Instagram erzählt, da sie viel Pessimistisches gehört habe. «Ich war sehr froh um diesen positiven Ansporn von aussen. Das wollte ich mit dem Post weitergeben, denn es gibt viele Betroffene.»
Der Radprofi ist glücklich, dass die Krankheit bei ihr ein gutes Ende genommen hat. Sie will nicht mehr daran denken, was sie alles im letzten Jahr verpasst hat, darunter die WM in der Schweiz und Olympia. Ende Januar gibt sie in Mallorca an einem Rennen ihr Comeback.
Als selbst Long Covid Betroffener sind gleichzeitig die expliziten Einordnungen, dass das kein Allgemeinrezept ist, eine Wohltat. Z.B. der Absatz «[Britt] sieht ein weiteres Risiko bei Heilungsberichten, die auf positiven Gedanken, Hypnose, Brain-Retraining und Aktivierung basieren. Damit werde suggeriert, dass Betroffene selbst schuld seien, dass sie nicht gesund würden oder nicht gesund werden wollten.» Danke!!