16 Sekunden steht Lars Ricken auf dem Platz. Borussia Dortmund führt im Final der Champions League gegen Juventus Turin mit 2:1, als der Ball zum jungen Stürmer kommt. «Schiess, von wo auch immer», hat sich dieser noch auf der Ersatzbank für seinen ersten Ballkontakt vorgenommen – und er setzt seinen Plan in die Tat um.
Ricken erhält den Ball von Andreas Möller zugespielt, es ist ein herrlicher Steilpass des Spielmachers. Juve-Keeper Angelo Peruzzi steht etwas weit vor seinem Kasten, also nochmals: «Schiess, von wo auch immer!» Er drückt ab, der Ball segelt im hohen Bogen über den Italiener und zappelt im Netz. 3:1, die Entscheidung, Dortmund holt den Kübel.
Knapp 21 Jahre alt ist Lars Ricken erst, aber ein Neuling ist er nicht. Schon als 17-Jähriger holt ihn Ottmar Hitzfeld, nicht unbedingt als Nachwuchsförderer bekannt, in den Profikader. Rickens erster Treffer in der Bundesliga macht ihn zum damals jüngsten Torschützen der Ligageschichte.
Auch im Europacup schiesst Ricken wichtige Tore, besonders in dieser Champions-League-Saison. Sowohl im Viertelfinal gegen Auxerre wie auch im Halbfinal gegen Manchester United erzielt er im Rückspiel die Treffer zu den beiden 1:0-Siegen.
Dennoch sitzt er am Abend des 28. Mai nur auf der Ersatzbank, als im Münchner Olympiastadion der Final gegen Juventus Turin angepfiffen wird. «Ich war natürlich schon enttäuscht», gab Ricken Jahre später im Magazin «11 Freunde» zu.
«Unser Team war gespickt mit Nationalspielern. Da alle fit waren, habe ich schon geahnt, dass ich auf der Bank sitzen muss.» Nach einem sehr guten Gespräch mit Hitzfeld habe er aber gewusst, dass er zu seiner Chance kommen würde.
Juve geht als Favorit ins Endspiel. Doch Karl-Heinz «Kalle» Riedle bringt Dortmund vor der Pause mit einem Doppelschlag (29. und 34. Minute) überraschend in Führung. Als Alessandro Del Piero nach 64 Minuten den Anschlusstreffer für die Italiener schiesst, beweist Dortmund-Trainer Hitzfeld sein goldenes Händchen.
Er nimmt den Schweizer Nati-Helden Stéphane Chapuisat vom Platz, ersetzt ihn mit dem «Dortmunder Jungen» Lars Ricken, der Rest ist Geschichte. Seit seinem Heber wird der Torschütze zum 3:1 überall, wo er auftaucht, auf dieses eine Tor angesprochen.
Wobei es meistens so sei, dass er nicht seine Geschichte erzählen müsse, «sondern die Leute erzählen mir, wie sie das Tor erlebt haben.»
Eine Geschichte sei ihm besonders in Erinnerung geblieben, sagt Ricken. Erzählt habe sie ihm ein Fan, der ihn eigentlich für seinen Schuss verflucht habe. «Er sagte: ‹So ein Idiot, wie kann der aus dieser Situation schiessen› und drehte sich wütend ab. Wenige Sekunden später brach der Jubel aus und seine Freunde und er lagen quer übereinander.»
Ricken spricht von der grösstmöglichen Bestätigung. «Mit einem Tor habe ich den Menschen einen unvergesslichen Augenblick beschert.»
Es stört Ricken nicht, dass er von vielen Fans auf eine einzige Szene reduziert wird. «Es gibt doch nichts Schöneres, als ein Tor erzielt zu haben, das den Leuten so eindringlich im Gedächtnis geblieben ist. Andere werden nach ihrer Karriere über Schwalben oder brutale Fouls definiert. Ich über mein Tor gegen Juve», sagte er 2009 in der «Bild». Damals wählten die Fans seinen Lupfer anlässlich des 100. Geburtstags des Klubs zum «BVB-Tor des Jahrhunderts».
In seiner 302 Bundesliga-Spiele langen Karriere trug Ricken immer nur das gelb-schwarze Trikot von Borussia Dortmund. Auch nach dem Rücktritt blieb er dem Klub treu, er arbeitet als Nachwuchskoordinator.