«Mein 1000. Tor wird eine ‹Tuleta› sein», posaunte Tulio einst. Die Tuleta kennt in Brasilien jeder. Es ist der Trick des Stürmers, mit welchem er sich unsterblich macht. Er geht so: Sich um 180 Grad drehen, Ball zwischen die Füsse, langsam hochziehen und mit der Hacke des einen Beines das Leder ins Tor schiessen.
Erfunden hat ihn Tulio an diesem 26. März 1996. «Es war eine Art kindlicher Einfall», sagt er später. Die Angelegenheit ist jedoch alles andere als «kindlich». Es laufen nämlich die Schlussminuten in der Copa Libertadores. In der Gruppenphase empfängt Botafogo das chilenische Team Universidad Catolica. Botafogo führt unter anderem dank einem Tor von Tulio 3:1. Dann springt dem Angreifer die Kugel vor die Füsse. Das Tor ist leer. Statt einzuschieben zeigt er die «Tuleta».
4:1 siegen die Brasilianer. Häme von wegen Gegner-Verhöhnung gibt es wenig. Heute hätte er dafür wohl die Gelbe Karte gesehen, damals bleibt sie ihm erspart. Trotzdem bleibt der Treffer nicht folgenlos: «Es war der Startschuss für meine Mission», behauptet der Stürmer Jahre später.
Er habe seinen Teamkollegen nach dem Schlusspfiff von seinem Traum erzählt: Tulio will 1000 Tore in seiner Karriere schiessen. Das schafften vor ihm nur drei Brasilianer: Arthur Friedenreich, Pelé und Romario. Die Tuleta war ca. Tulios 150. Treffer. Die Kollegen lachen ihn aus. Schon 26-jährig ist der Mann aus Goiania. Er gilt immerhin als Knipser. Tulio selbst beschreibt sich so: «Ich bin kein Mythos wie Pelé und kein Genie wie Garrincha, kein Jahrhunderttalent wie Maradona und auch kein Phänomen wie Ronaldo. Das Einzige, was ich wirklich kann, ist Tore schiessen.»
Damit hat er durchaus recht. Seine ersten Profijahre verbrachte er bei Goias, wo er es auf 94 Treffer in 165 Spielen bringt und zweimal in die «Seleção» berufen wird. Luis Felipe Scolari machte den damals 19-Jährigen zum Profi.
1992 wechselt Tulio in die Schweiz zum FC Sion. Er soll den Klub in die Königsklasse ballern. Mit 19 Treffern in 35 Partien gehört er zwar zu den Leistungsträgern des frischgebackenen Meisters. In die Champions League kann er die Walliser gegen Porto aber auch nicht zum Sieg schiessen. Glücklich ist der Abstecher nach Europa ebensowenig, Tulio kehrt zwei Jahre später zurück. «Ich musste viel mehr laufen als in Brasilien. Das ist nicht meine Welt», sagt er später, nachdem auch sein zweiter Abstecher nach Europa (zu Ujpest Budapest) wenig erfreulich verläuft.
In Europa scheiterte Tulio, doch in seiner Heimat – insbesondere bei Botafogo – wird er verehrt. Nach dem beschaulichen Wallis läuft er in der lebendigen Metropole Rio de Janeiro wieder zur Hochform auf. Er wird Torschützenkönig Brasiliens, schiesst sein Team im Final gegen Santos zum Titel und wird vergöttert. Fans nennen ihn nur noch Tulio Maravilha (Tulio, das Wunder).
Die Seleção ruft ihn wieder. 1995 gehört Tulio zum Stamm der Nationalmannschaft. Bei der Copa America 1995 gelingt ihm dabei im Viertelfinal gegen Argentinien der 2:2-Ausgleich. Die «brasilianische Hand Gottes» wird der Treffer genannt:
Brasilien siegt im Penaltyschiessen – unter anderem nach einem erfolgreichen Versuch Tulios. «Natürlich war das Hand, aber das würde ich im Spiel niemals zugeben», gesteht Tulio danach. Morddrohungen aus Argentinien fluten seinen Briefkasten. Im Finale gegen Uruguay verlässt ihn dann das Glück: Tulio scheitert in der Kurzentscheidung, Uruguay holt den Titel.
Die Karriere in der Nationalmannschaft endet ziemlich abrupt. Für die Olympischen Spiele 1996 ist Tulio zu alt, danach wird er nicht mehr berücksichtigt. Die Mission der 1000 Tore läuft jedoch weiter. 1997 beginnen die Wanderjahre des Kickers mit dem Wechsel zu den Corinthians. 37 Wechsel wird er vollziehen und bis zu seinem Rücktritt für 24 verschiedene Vereine spielen. Tulio wird als bisher einziger Spieler Torschützenkönig der drei höchsten Ligen Brasiliens und zählt fleissig seine Tore.
Immer wieder trägt er eine Rückennummer mit der Anzahl seiner Treffer. Beim Debüt für den Clube Sociedade Esportiva, in einer unteren Liga, trägt er die 975. Ein Hattrick später ist die Nummer Geschichte und der Traum noch etwas näher. Sein 1000. Tor soll nicht wie bei Pelé oder Romario per Elfmeter fallen, sondern per Tuleta. Ein Spektakel soll es sein mit Liveübertragung und vielen Fans. «Wenn noch sieben Tore fehlen, gehe ich zurück zu Botafogo. Ich will meine Mission bei meiner grossen Liebe beenden», sagte er noch 2012.
Es gäbe eine Vereinbarung mit seinem Herzensverein. Tatsächlich wechselt Tulio noch einmal zu Botafogo. Das 1000. Tor gelingt ihm dabei nicht. Er zieht weiter zu Vilavelhense und Araxa. Dort passiert es doch noch: Im Februar 2014 erzielt der mittlerweile 44-Jährige in der Campeonato Mineiro der 2. Division gegen Mamore seinen 1000. Treffer. Allerdings nicht per Tuleta, sondern wie Pelé und Romario mittels Elfmeter.