2013 ist Novak Djokovic im Melbourne Park seit drei Jahren das Mass aller Dinge. Er hat die letzten drei Austragungen gewonnen, ist beim Australian Open seit 18 Partien unbesiegt und scheint mit 25 Jahren nur noch besser zu werden. Der Titelverteidiger fliegt regelrecht durch die ersten Runden. In neun Sätzen gibt er seinen Aufschlag nie ab. Und jetzt wartet Stan Wawrinka. Nicht viel spricht für den Schweizer, schon gar nicht das damalige Head-to-Head von 0:11.
Stan Wawrinka dümpelt in der Weltrangliste in den letzten Jahren konstant um Platz 20 herum. In den Top 10 war er mal kurz. Man weiss also: Die aktuelle Weltnummer 17 hat Potenzial und Talent. Aber gewinnen konnte der damals 28-Jährige bisher nie wirklich was. Drei eher unbedeutende ATP-250-Turniere in Umag, Casablanca und Chennai hat er für sich entschieden und der Schatten von Landsmann Roger Federer ist eh zu gross. Wawrinka ist eher für unnötige Niederlagen bekannt. Oft kämpft er heroisch, verliert am Ende aber doch. Genau wie an diesem Tag gegen Novak Djokovic. Aber der Reihe nach ...
Zunächst läuft für den Schweizer aber alles wie am Schnürchen: Wawrinka legt los wie die Feuerwehr und für das 6:1 im Startsatz benötigt er nur 25 Minuten. So demontiert wurde Djokovic schon länger nicht mehr – vielleicht noch nie. Wawrinka spielt in einer anderen Sphäre, der Serbe blickt hilflos in die eigene Box. Einen Rat hat niemand. Wie auch, wenn der Gegner nur drei unerzwungene Fehler macht?
Wawrinka macht dort weiter, wo er im ersten Durchgang aufgehört hat. Nach 51 Minuten liegt er mit Break 4:1 vorne, nach einer Stunde trennt ihn bei 5:2 ein Game vom zweiten Satzgewinn. Doch plötzlich zittert die Hand. Die Bälle kommen nicht mehr so genau und Djokovic kommt zurück.
Der Favorit sichert sich fünf Games in Serie zum 7:5, der Satzausgleich ist perfekt. Wawrinka unterlaufen in diesem Durchgang nicht mehr nur drei, sondern 25 unerzwungene Fehler. Nach der Partie wird er relativieren: «Ich glaube auch nicht, dass ich sicher gewonnen hätte, wenn ich mit 2:0 Sätzen in Führung gegangen wäre. Schliesslich kennen wir alle Djokovics Qualitäten.»
Diese Qualitäten spürt Wawrinka im dritten Satz. Mit zwei unglaublichen Punkten schnappt sich der Serbe das Break zum 1:0. Doch Wawrinka gelingt das sofortige Rebreak.
Beim Servicedurchbruch zum 5:4 – ein weiterer langer Ballwechsel – hat Wawrinka dann keine Antwort mehr bereit: Djokovic holt sich den Durchgang mit 6:4. Nach zwei Stunden Spielzeit hat jeder erstmals so richtig das Gefühl: Das war's, jetzt geht der Favorit seinen Weg.
Der vierte Satz avanciert zum besten der Partie. Beide Spieler leisten sich kaum Fehler. Weil Wawrinka die einzigen beiden Breakbälle dieses Durchgangs zum 2:0 und 3:1 vergibt, muss das Tiebreak entscheiden. Wawrinka spielt dort überraschend ruhig und macht die wichtigen Punkte. Er legt mit 6:3 vor und nutzt seinen zweiten Satzball mit einem Vorhandwinner zum 7:6 (7:5). Der Entscheidungssatz muss her. Keiner verlässt an diesem Sonntagabend jetzt natürlich das Stadion, auch wenn es schon längst Mitternacht ist.
Im Entscheidungssatz scheint Wawrinka Oberwasser zu haben, kann dies allerdings nicht umsetzen. Er geht gleich mit Break in Führung, kassiert aber – trotz zwei Spielbällen – das sofortige Rebreak zum 1:1. Zwei weitere Breakbälle zum 2:1 lässt der Romand ungenutzt. Der erste Höhepunkt des Dramas erfolgt beim Stand von 4:4. Vier Möglichkeiten zum Servicedurchbruch vergibt der Schweizer.
Besonders bitter: Beim letzten Breakball sitzt sein Return perfekt. Der Linienrichter gibt den Ball aber «out», der Schiedsrichter rät Wawrinka von der Challenge ab, denn es ist seine letzte. Was Wawrinka erst eine Stunde nach der Partie erfährt: Der Ball war drin, das Break zum 5:4 hätte ihm womöglich den Sieg gebracht.
So aber spitzt sich das Drama zu. Die beiden schenken sich nichts, Djokovic scheint jetzt allerdings stärker zu sein. Er kommt bei keinem seiner Aufschlagsspiele mehr in Verlegenheit. Wawrinka serviert fünfmal erfolgreich gegen die Niederlage. Beim Stand von 10:11 erarbeitet er sich zwar wieder insgesamt drei Spielbälle, muss aber auch zwei Matchbälle zunichte machen. Beim dritten ist er schliesslich machtlos, um 1.45 Uhr nach 5:02 Stunden ist «Marathon-Stan» geschlagen.
20 Mal fliegt der Filzball übers Netz, zweimal hat man das Gefühl, Wawrinka habe den Punkt praktisch schon gewonnen, doch nach einem Passierball sinkt der Romand zu Boden. Wieder gegen diesen Djokovic verloren. Zum zwölften Mal in Serie.
Wawrinka wankt nach vorne, stützt sich am Netz ab und nimmt die Gratulationen seines Gegners an. Dieser schüttelt dem Schiedsrichter die Hand, zerreisst danach – wie schon nach dem Sieg gegen Nadal 2012 im Endspiel – sein Shirt und schreit seine Freude in die frühen Morgenstunden aus der Rod Laver Arena.
Djokovic wird später erklären: «Es war eines der intensivsten und aufregendsten Spiele, die ich in meiner Karriere bestritten habe. Wawrinka hätte das Spiel gewinnen können, Stan war der Chef auf dem Platz.» Das «Stanimal» aber ist am Boden zerstört: «Es ist extrem enttäuschend und frustrierend, dass ich mein bestes, komplettestes Spiel überhaupt verloren habe», sagt er.
Djokovic tröstet: «Er hat die Qualität, um die besten Spieler der Welt zu schlagen. Das hat er schon an verschiedenen Orten auf verschiedenen Belägen gezeigt.» Beobachter sind sich einig: Hier hat eigentlich niemand verloren. Das findet kurz nach der Partie kein Gehör bei Wawrinka: «Das ändert leider das Resultat nicht.»
Das Achtelfinal-Aus bleibt bis heute die vermutlich heroischste und gleichzeitig bitterste Pleite Wawrinkas. Doch 2013 wird sowieso zum Jahr der grossen Niederlagen. Zwei Wochen später folgt das legendäre Doppel im Davis Cup gegen Tschechien.
An der Seite von Marco Chiudinelli muss sich «Marathon-Stan» nach 7:02 Stunden dem Duo Tomas Berdych/Lukas Rosol geschlagen geben. Der letzte Satz, der alleine 3:35 Stunden dauert, endet 22:24. Im Sommer lässt sich Wawrinka ein Tattoo auf seinen Unterarm stechen, das wie für ihn gemacht scheint: «Immer versucht. Immer gescheitert. Egal. Versuch es wieder. Scheitere wieder. Scheitere besser.»
Am US Open folgt die nächste Fünfsatz-Pleite gegen Djokovic: Trotz 2:1-Satzführung zieht Wawrinka noch den Kürzeren. Die Worte von Ivan Lendl, der schon nach dem Australian-Open-Spiel in Erinnerung rief, dass jeder Spieler einen echten «Krieg» erlebt haben muss, um ein grosser Champion zu werden, scheinen fast schon pervers.
Doch was da noch niemand weiss: Wawrinka, der ewige Verlierer, wird tatsächlich noch zum grossen Sieger. 2014 rächt er sich im Viertelfinal in Melbourne mit 2:6, 6:4, 6:2, 3:6, 9:7 an Djokovic und gewinnt wenig später seinen ersten Grand-Slam-Titel. Endlich ist Wawrinka im Tennis-Olymp angekommen. In den darauffolgenden Jahren gewinnt er zwei weitere Major-Titel. Das French Open und das US Open, beide Male im Final gegen ... Novak Djokovic.
Oh mann, das hab ich verdrängt. Ich könnte gleich wieder heulen. Bitterer geht nun wirklich nicht.
Staune aber immer wieder, dass ein Ereignis nicht die gefühlten 3,4 Jahre sondern z.Bsp. 7 Jahre her ist.