Das Coronavirus hält die Welt in Atem. Seitdem der neue Stamm aus der Familie der Coronaviren – die meisten von ihnen sind harmlose Erreger, die Erkältungen verursachen – im Dezember in China aufgetaucht ist, hat sich das Virus auf zahlreiche Länder verbreitet. Sars-CoV-2, wie das neue Virus von den Fachleuten bezeichnet wird, hat mittlerweile neben Europa auch die USA und Südamerika erreicht. Die Epidemie hat damit ein Stadium erreicht, in dem sie kaum mehr zu stoppen ist.
Neben Medizinern, Epidemiologen und Pharmakologen arbeiten auch Genetiker daran, das Virus unter Kontrolle zu bringen. Die Analyse des Genmaterials von Sars-CoV-2 kann Aufschluss darüber geben, woher das neue Virus kommt und wann es zuerst auftrat. Darüber hinaus versprechen sich die Wissenschaftler aber auch Hinweise darauf, wie es sich verbreiten konnte und warum die Versuche scheiterten, es einzudämmen.
Viren mutieren, wenn sie sich verbreiten. Diese Mutationen hinterlassen zufällige Veränderungen im Genom des Erregers. Anhand dieser Unterschiede können die Genetiker nachvollziehen, welche Fälle von welchem Virenzweig verursacht wurden, und dies ermöglicht ihnen, dem Verbreitungsweg auf die Spur zu kommen. Bereits sind dutzende solcher Corona-Verzweigungen identifiziert worden.
Besonders wichtig ist bei dieser Arbeit natürlich, dass die Wissenschaftler ihre Daten schnell und unkompliziert teilen können. Diesem Ziel hat sich das Open-Source-Projekt «Nextstrain» verschrieben, das auf seiner Website interaktive Diagramme und Karten zu diversen Erregern präsentiert. Die aktuelle Corona-Epidemie ist die erste, bei der Verbreitung und Entwicklung eines Virus so genau und so schnell erfasst werden konnte. Dies schreibt der Wissenschaftsjournalist Antonio Regalado in einem Beitrag in der «MIT Techology Review».
Regalado beschreibt als Beispiel, wie Wissenschaftler in Brasilien den genetischen Code des Virus sequenzierten und so feststellten, dass die beiden damals bestätigten Corona-Fälle in Brasilien nicht vom selben Zweig des Erregers verursacht wurden. Die Sequenzen unterschieden sich so stark, dass sie von verschiedenen Orten stammen mussten.
Einer der beiden Fälle wies genetische Ähnlichkeiten mit einer Gruppe von Infektionen in München auf. Nicht weniger als ein Viertel aller Neuinfektionen seit Beginn Februar zeigt offenbar solche Ähnlichkeiten mit der Gruppe in München – und dies an so verschiedenen Orten wie Mexiko, Finnland, Schottland, Italien und eben Brasilien.
«Patient 1» des Viruszweigs in München war ein Geschäftsmann, der sich mit einer chinesischen Geschäftspartnerin getroffen hatte und am 24. Januar erkrankte. Innerhalb von vier Tagen wurden weitere Mitarbeiter in der Firma krank, in der «Patient 1» arbeitete. Obwohl das Hauptquartier der Firma geschlossen wurde, könnte es schon zu spät gewesen sein, denn die genetischen Daten legen einen Zusammenhang zwischen der Gruppe in München und einem guten Teil der Infektionen in ganz Europa nahe.
«Eine extrem wichtige Erkenntnis daraus ist: Wenn ein Cluster identifiziert und ‹isoliert› wurde, bedeutet dies noch nicht, dass dieser Fall nicht zum Ausgangspunkt für eine Übertragungskette wurde, die erst entdeckt wurde, als sie zu einem grösseren Ausbruch führte», zitiert Regalado den Forscher Trevor Bedford, einen der Mitgründer von Nextstrain.
(dhr)